Einsatz- und Katastrophenmedizin: Wie die Bundeswehr angehende Ärzte ausbildet
Es kommt auf jede Minute an: Medizinstudierende und angehende Sanitätsoffizierinnen und -offiziere lernen gemeinsam, bei einem Massenfall von Verwundeten oder Verletzten eine Behandlungspriorisierung vorzunehmen. Worauf dabei zu achten ist, lehrt das Wahlpflichtfach Einsatz- und Katastrophenmedizin. Auf dem Stundenplan: Triage.
Bundeswehr/Jörg Volland
Es ist Sommer und Wochenende in Berlin. Viele Menschen sind auf den Straßen und die Laune ist ausgelassen. An diesem Wochenende steht eine Gartenparty an. Musik tönt laut aus den Boxen, überall lachende Gesichter und angeregte Gespräche. Im nächsten Moment finden sich die Menschen in einem völlig anderen Szenario wieder: Ein Hubschrauber ist abgestürzt, mitten in die eben noch tanzende Menge hinein. Das Licht ist orangerot gefärbt von den aufsteigenden Flammen des Wracks. Überall liegen verletzte Frauen und Männer am Boden.
Das Notarztteam trifft ein und seine erste Aufgabe wird sein, sich einen Überblick über die Situation zu verschaffen und zu triagieren. Triage heißt, zu priorisieren, wer zuerst behandelt werden muss, um möglichst viele Leben zu retten. Falls nötig, wird mit Filzstift die Behandlungspriorität auf die Stirn geschrieben. Die Triage ist Bestandteil der Ausbildung Einsatz- und Katastrophenmedizin (EKM). Das geschilderte fiktive Szenario ist die Abschlussprüfung des EKM-Moduls des Studienganges Medizin.
Bundeswehr und Charité: Einzigartiges Lehrangebot
Die EKM ist eine auf spezifische Verletzungsmuster abgestimmte Verwundetenversorgung, wie sie Fachleute aus der militärischen Einsatzmedizin kennen. Damit geht sie über die Grenzen der Krankenhausmedizin hinaus. Für EKM ist ein dreiwöchiges Wahlpflichtmodul im sechsten Semester des Medizinstudiums vorgesehen.
Wegen der Zusammenarbeit des Bundeswehrkrankenhauses Berlin als akademisches Lehrkrankenhaus und der Charité als Universitätsklinikum in Berlin stellt die Lehreinheit deutschlandweit ein außergewöhnliches Angebot dar. Die Besonderheit: Einsatzerfahrene Militärs und krisenerprobte Zivilisten betrachten dabei gemeinsam einen Querschnitt aus vielen unterschiedlichen medizinischen Bereichen.
Das Modul erfreut sich wegen seiner zahlreichen Praxiseinheiten nicht nur bei angehenden Sanitätsoffizierinnen und -offizieren großer Beliebtheit, sondern auch bei zivilen Medizinstudentinnen und -studenten. Den Schwerpunkt bildet das Erlernen von Handlungsleitlinien für Rettungseinsätze unter Extrembedingungen. Das bedeutet, mit wenig Zeit, Material und Personal möglichst vielen Menschen das Leben zu retten und Krankheiten zu lindern. Gegenstand der Lehreinheit ist die Triage, also die Einteilung der Schwere von Verletzungen, und ihre Behandlungspriorisierung.
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Bei einem Massenfall von Verwundeten oder Verletzten kommt es auf jede Minute an. Worauf in solchen Ausnahmesituationen zu achten ist, lehrt das Wahlpflichtfach Einsatz- und Katastrophenmedizin. Auf dem Stundenplan: Triage.
Schockraumtraining, Intubation und Thorax-Drainage
In der ersten Woche des EKM-Moduls werden die Studentinnen und Studenten in die Arbeitsbedingungen der Katastrophenmedizin eingeführt. Dazu gehört, den Unterschied zwischen der Medizin in einem sicheren Umfeld mit voll ausgestattetem Operationssaal und einer Rettungsstation im Ausland zu verstehen.
Darauf aufbauend beschäftigt sich die zweite Woche mit chirurgischen Notfalltechniken und der Behandlung von Splitter-, Schuss- und Explosionsverletzungen. Auch das Thema Führungskompetenz wird angesprochen: Wie leite ich als zuständige Ärztin oder zuständiger Arzt ein Team bei der Versorgung von schwer verletzten Personen?
In der dritten Woche wird die Behandlung von Verletzungen, die die Innere Medizin betreffen, vermittelt. Hinzu kommen Fragestellungen rund um Eindämmung von Infektionskrankheiten und ethische Aspekte, die es bei einem Katastrophenfall zu beachten gilt.
Prüfung: Triage-Übung mit verschiedenen Verletzungen
Um Leben zu retten, müssen Ärztinnen und Ärzte schnell entscheiden, welche Patientin oder Patient zuerst versorgt werden muss. In der Medizin gibt es klare Regeln für eine solche Triage. Als Abschlussprüfung müssen sich die angehenden Sanitätsoffizierinnen und -offiziere sowie Medizinstudentinnen und -studenten in einer simulierten Großschadenslage beweisen und zeigen, dass sie die verschiedenen Verletzungsmuster erkennen und diese priorisieren können.
Die Triage-Übung des Moduls findet in Kladow in der Blücher-Kaserne statt. Dabei stellt der Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) ein Schminkteam für die simulierte Abschlussprüfung zur Verfügung, um die Verletzungen so realitätsnah wie nur möglich darzustellen. „Eine Schminkarbeit kann schon mal bis zu einer halben Stunde dauern, je nachdem, wie detailliert und echt sie aussehen soll“, berichtet ein Mitarbeiter des ASB-Schminkteams. Laiendarstellerinnen und Laiendarsteller des Bundeswehrkrankenhauses und der Charité sowie das Team des Ausbildungszentrums in Kladow sorgen für das nötige Katastrophen-Feeling, um die Prüflinge unter Stress zu setzen.
„Es ist von Bedeutung, einen echten Eindruck zu entwickeln, wie man unter Stress und meist auch Schock reagiert. Die schweren Verletzungsmuster in der EKM lassen die Psyche nämlich nicht kalt“, sagt Oberstabsarzt Felix Fellmer, Projektoffizier und Durchführender des Moduls. Die Abschlussprüfung solle den Prüflingen zeigen, mit was sie in ihrem späteren Berufsalltag konfrontiert werden könnten.
Triage-Übung unter Extrembedingungen
Bei einem Massenfall von Verwundeten oder Verletzten kommt es auf jede Minute an. Worauf in solchen Ausnahmesituationen zu achten ist, lehrt das Wahlpflichtfach Einsatz- und Katastrophenmedizin. Auf dem Stundenplan: Triage.
Vor der Übung erklärt der Projektoffizier, Oberstabsarzt Felix Fellmer, den angehenden Medizinerinnen und Medizinern die simulierte Großschadenslage. Ein Hubschrauber ist nachts in eine Gartenanlage abgestürzt und hat massenweise Menschen verletzt.
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Ein Team des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) hat derweil alle Laiendarstellerinnen und Laiendarsteller aufwendig geschminkt, um die Verletzungen so realitätsnah wie nur möglich abzubilden
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Für die Großschadenslage sind auch Amputationsverletzungen vorgesehen. Einen Körperteil wegzuschminken, obwohl er eigentlich da ist, erscheint nicht so einfach. Doch die ausgebildeten Mitarbeiter des ASB sind speziell geschult.
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Frau Leutnant Melanie Häfner ist selbst Medizinstudentin im achten Semester. Heute wird sie nicht geprüft, sondern darf in die Rolle einer Laiendarstellerin schlüpfen. Ihr Hämatom und ihre Thoraxverletzung sehen täuschend echt aus.
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Die Halle wird eingenebelt, die Lautsprecher und Soundeffekte sind aufgedreht. „Die Laiendarsteller auf ihre Posten“, befiehlt Oberstabsarzt Fellmer. Vor der Halle warten die Prüflinge.
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Nebel, Lärm und Dunkelheit – alles, um die künftigen Ärztinnen und Ärzte unter Stress zu setzen. Sie sollen sich selbst und ihr Handeln unter diesen Extrembedingungen kennenlernen.
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Mit Stirnlampen und Notizzetteln bewaffnet laufen Zweierteams durch die Hallen. Es gilt, acht verletzte Menschen in der unübersichtlichen Lage zu finden. Dann bleibt ihnen eine Minute pro Person Zeit, um zu triagieren.
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Im Hubschrauberwrack sitzt die schwer verletzte Frau Leutnant Melanie Häfner. Um ihre Verletzung am Rücken zu erkennen, müssen die Prüflinge in das Wrack klettern. Für viele ein Hindernis, weshalb sie den Zustand der Verwundeten falsch einschätzen.
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„Wie ist der Zustand der Verletzten? Wie würden Sie bei der Behandlung vorgehen?“, fragt eine Stimme aus dem Off. Die Medizinstudierenden müssen während der Triage zusätzlich Fragen beantworten, die von Oberstabsarzt Fellmer gestellt werden.
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Es gab auch Kollisionsschäden mit Fahrzeugen. Eine Fahrerin ist bewusstlos geworden und hat eine Platzwunde am Kopf erlitten. Welche Behandlungspriorität hat sie? Die Prüflinge entscheiden hier richtig: Rot für akute vitale Bedrohung.
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Eine Minute pro Person und wen behandle ich zuerst?
Es ist Übungsbeginn: Die beiden Hallen, in denen der simulierte Hubschrauberabsturz passiert ist, werden abgedunkelt. Techno- und Schlagermusik im Wechsel ertönen aus großen Boxen. Eine Nebelmaschine sprüht die Hallen ein, sodass die bloße Hand vor den Augen kaum mehr zu erkennen ist. Soundeffekte wie das Martinshorn und Menschengeschrei werden eingespielt. LED-Stroboskope sorgen mit ihren Blitzlichteffekten für endgültige Orientierungslosigkeit. Hinzu kommt, dass auf dem Boden überall Stolperfallen wie umgestürzte Fahrräder und Wrackteile positioniert sind.
Die Laiendarstellerinnen und -darsteller, die zuvor unterschiedliche Verletzungen geschminkt bekommen haben, verteilen sich auf die Hallen. Sie wurden eingewiesen, bestimmte Rollen zu spielen und sich so zu verhalten, wie es die Menschen in solchen Extremsituationen vermutlich tun würden: ängstlich, verzweifelt, geschockt und schmerzerfüllt. Insgesamt acht Menschen in jeder Halle gilt es zu finden und zu triagieren.
Acht Minuten Zeit haben die Prüflinge für die Triage. Sie laufen in Zweier-Teams durch die Hallen. Nach acht Minuten wird gewechselt. Einer schreibt, der oder die andere schätzt die Schwere der Verletzungen ein. „In der Realität hat ein Notarzt für eine Person meist nur 40 Sekunden, um das Verletzungsmuster einzuschätzen und zu priorisieren. Wir fahren hier schon einen großzügigen Ansatz von 60 Sekunden pro Person“, erklärt Oberstabsarzt Fellmer.
„Triage ist ein dynamisches Geschehen“
Nach vier Farben müssen die Prüflinge die Verletzungen einordnen. Rot steht dabei für eine lebensbedrohliche Verletzung mit sofortigem Behandlungsbedarf, Gelb für dringend, Grün für normal und Blau für nicht dringend oder abwartende Behandlung. Die Farbe Schwarz gibt es auch, kommt jedoch laut Fellmer selten vor. „Schwarz werden Personen kategorisiert, die schon tot sind oder sehr wahrscheinlich auf dem Weg ins Krankenhaus versterben werden.“
Frau Leutnant (SanOA) Melanie Häfner ist Medizinstudentin im achten Semester und während der Übung Laiendarstellerin. Ihr wurde das Verletzungsmuster Rot zugeteilt. Ihr ragt ein geschminkter Wracksplitter aus dem Rücken und ihre Lunge ist verletzt. Während der Prüfung sitzt sie im Hubschrauberwrack und sieht von vorn unverletzt aus. In diese Stolperfalle sind einige Prüflinge getappt und haben die Schwerstverletzte zunächst als Gelb oder Grün kategorisiert. Im wahren Leben wäre dies ein fataler Fehler gewesen. Auch wenn eine Person im ersten Moment vital aussehe, könne sich das innerhalb von Sekunden ändern, denn die Triage sei ein dynamisches Geschehen, so Fellmer.
„Wir machen es den angehenden Sanitätsoffizieren und Medizinstudenten nicht leicht. Wir wechseln ständig die Musik, um sie aus dem Konzept zu bringen. Wenn wir Kinder-, Frauengeschrei oder Schussgeräusche einspielen, kann dies den ein oder anderen komplett aus der Bahn werfen. Das alles machen wir, um die Prüflinge so gut es geht auf die Realität vorzubereiten“, erklärt ein Ausbilder aus dem Ausbildungs- und Simulationszentrum des Sanitätsregimentes 1 der Blücher-Kaserne in Kladow.
Prüfungsauswertung im Hörsaal
Nach Prüfungsende gibt es eine Besprechung im Hörsaal der Kaserne. Die Laiendarstellerinnen und -darsteller müssen ein Feedback geben, ob sie sich gut aufgehoben gefühlt haben. Häfner merkt an, dass sie zu wenig körperlich untersucht worden sei und daher ihre Verletzung falsch eingeschätzt wurde. Man habe dem medizinischen Nachwuchs die Aufregung und Reizüberflutung auf jeden Fall angemerkt, beurteilt Häfner das vorherige Geschehen.
Dennoch verbucht Oberstabsarzt Fellmer die Prüfung als Erfolg und alle Prüflinge sind erleichtert, die Stresssituation gemeistert zu haben. Das Feedback: Auch in diesem Jahr war das EKM-Modul lehrreich für alle Beteiligten. Die Medizinstudentinnen und -studenten sind überrascht, wie gut sie ihr erlerntes Wissen praktisch in Extremsituationen anwenden konnten. Die meisten sagen, sie haben die ohrenbetäubende Musik einfach ausgeblendet und sich ganz auf die Verletzungen konzentriert.
Diesen Eindruck bestätigt auch Fellmer: „Aus Erfahrung kann ich sagen, dass man erst einige Tage später merkt, was man erlebt und gesehen hat. Aber in der Situation funktioniert man einfach.“
3 Fragen an Felix Fellmer
Was war Ihre Motivation, Medizin zu studieren?
Felix Fellmer
Ich weiß, die Antwort ist klischeebehaftet, aber es bereitet mir Freude, Menschen dabei zu helfen, wieder gesund zu werden. Das wusste ich aber nicht direkt, sondern das kam erst später, nach meinem Zivildienst im Krankenhaus. Da ist mir aufgefallen, wie faszinierend ich die Medizin finde und den Gedanken, Menschen zu helfen.
Erinnern Sie sich an die erste kritische Situation nach Ihrem Medizinstudium?
Felix Fellmer
Im Auslandseinsatz mit einem zivilen Team des Arbeiter-Samariter-Bundes zur humanitären Nothilfe bin ich zum ersten Mal an meine Grenzen gestoßen. Im Irak habe ich damals Geflüchtete des Islamischen Staates behandelt. Die Bilder, die ich dort gesehen habe, gehen mir bis heute nah. Auf Lesbos habe ich ebenfalls geflüchtete Menschen medizinisch betreut. Da habe ich eine Situation noch ganz präsent vor meinem inneren Auge: Ein afrikanischer Mann hat einen Herzinfarkt erlitten und um ihn behandeln zu können, musste ich seine Oberbekleidung entfernen. Dabei entdeckte ich Folterspuren am ganzen Körper. Das traf mich besonders hart, da ich in dem Moment nicht damit gerechnet habe. Folter ist so ein abstraktes Thema und wenn man es dann lebendig vor einem sieht, dann kann man erst den Schmerz der gefolterten Personen erahnen.
Wird man im Studium auf das wahre Leben vorbereitet?
Felix Fellmer
Jein. Man eignet sich wirklich viel Wissen an, man versteht den gesamten Körper bis in jede kleinste Zelle und kann erklären, was da vor sich geht. Leider fehlt einem manchmal die Praxis zur Theorie. Deshalb habe ich auch vor einigen Jahren die Organisation des EKM-Moduls übernommen. Es ist praxisnah ausgerichtet, das war mir wichtig, und holt die Sanitätsoffiziere und Studenten vom Schreibtisch und der Bibliothek weg. Es ist sicherlich lehrreich, auch mal zu fühlen, wie es sein kann, unter Stress und Entscheidungszwang medizinische Entscheidungen zu treffen.
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