Der Bundeskanzler bei der Bundeswehrtagung 2022
Wortlaut der Rede von Olaf Scholz bei der Bundeswehrtagung am 16. September 2022
Die deutschen Seestreitkräfte müssen sich an Abschreckung, Verteidigung und Fortschritt ausrichten. Das soll über den umfassenden Einstieg vor allem in unbemannte Systeme geschehen.
Die künftigen Fregatten der Klasse 126 werden sich mit unterschiedlichen Fähigkeitsmodulen den jeweiligen operativen Anforderungen anpassen. Unbemannte Systeme sollen sie in gefährlichen Lagen noch flexibler machen.
Damen ShipyardsDie Bundeswehr muss „zum Grundpfeiler der konventionellen Verteidigung in Europa werden, zur am besten ausgestatteten Streitkraft in Europa“ – das erklärte Bundeskanzler Olaf Scholz auf der Bundeswehrtagung 2022. Kernauftrag sei die Landes- und Bündnisverteidigung, alle an- deren Aufgaben hätten sich dem unterzuordnen.
Damit präzisierte der Bundeskanzler seine Erwartungen an die Bundeswehr, die an das ebenfalls 2022 beschlossene Strategic Concept der NATONorth Atlantic Treaty Organization anknüpfen: Abschreckung und Verteidigung, Krisenprävention und -management sowie Kooperative Sicherheit bleiben die Aufträge des Bündnisses – aber mit deutlicher Betonung der Abschreckung. Das fordert insbesondere von der Marine: hohe Gefechtsbereitschaft und Präsenz in den Operationsräumen Nordatlantik, Nord- und Ostsee bereits im Frieden.
Zugleich verändern technische Neuerungen die Bedingungen im maritimen Operationsraum massiv. Neue Unterwasser-Sensorik, umfassen- de land-, luft- und weltraumgestützte Aufklärung machen das Gefechtsfeld zunehmend gläsern. Aus den resultierenden großen Datenmengen erzeugen komplexe ITInformationstechnik-Systeme, künftig auch mit Hilfe Künstlicher Intelligenz, umfassende Lagebilder.
Potentielle Bedrohung und technologische Messlatte: Eine russische Fregatte feuert eine Hyperschall-Anti-Schiff-Rakete vom Typ 3M22 Zirkon ab, Mai 2022
Quelle: Youtube/Forces News, 04.01.2023; Abruf: 08.02.2023Das geht einher mit leistungsstarken Waffensystemen potentieller Gegner, die teils äußerst schwer abzuwehren sind. Für Reaktionen zur Abwehr bleibt immer weniger Zeit. Weil deswegen mit zusätzlichen Ausfällen im Gefecht zu rechnen ist, unterstreicht das den Wert von Quantität – die Masse machts.
Zugleich steigt durch die technische Entwicklung die Bedrohung im Gefecht derart, dass eigene Soldatinnen und Soldaten dieser Bedrohung nur im unbedingt erforderlichen Maß ausgesetzt werden sollen. Der Trend geht damit eindeutig hin zu unbemannten Systemen, die sich in einem teilstreitkräfte-gemeinsamen Netzwerk einsetzen lassen.
a) Dringendstes Erfordernis ist ein hinreichendes und kontinuierlich geführtes Lagebild über alle Aktivitäten im eigenen Operationsraum. Insbesondere ist das Erkennen gegnerischer Aktivitäten, ihre Bewertung und der Lagebildaustausch national wie auch im Bündnis erforderlich.
b) Um auf Grundlage dieses Lagebildes selbst handlungsfähig zu bleiben und diesen Aktivitäten begegnen zu können, bedarf es Seekriegsmittel auf, über und unter Wasser sowie in der Luft. Das dabei zu beherrschende Spektrum reicht von einem Beobachten und/oder Behindern eines Gegners im Frieden bis zur Bekämpfung im Krieg.
c) Eine ausgeprägte Resilienz im Sinne einer Widerstandsfähigkeit ist dazu unverzichtbare Voraussetzung, denn sie gewährleistet eigene Handlungsfähigkeit trotz gegnerischer Aktivitäten. Sie erfordert strukturelle, funktionale und individuelle Reserven. Sie umfasst auch die Dezentralisierung von Aufgabenverteilung und Verantwortung, um sich für den Ausfall zentraler Systeme zu wappnen.
Sie ist Ausdruck des politischen Willens mit Signalwirkung, zeigt Solidarität im Bündnis und Verteidigungsbereitschaft. Auch unterstützt Präsenz das Lagebild im Operationsraum und erhöht die eigene Reaktionsfähigkeit.
Dafür benötigt die Marine: eine ausreichende Anzahl von Schiffen und Booten, Flugzeugen und Hubschraubern, die es erlaubt, Präsenz in den Operationsgebieten durchhaltefähig zu gewährleisten.
Angriffe von See Richtung Land („Maritime Strike“) reduzieren die Handlungsoptionen eines Gegners. Sie zielen vor allem auf Führungseinrichtungen, Sensoren- und Waffenstellungen sowie Logistikzentren. Das kann die Zugangsverweigerung in ein Gebiet durch den Gegner mittels schneller, moderner Lenkflugkörper (Anti-Access/Area Denial) so reduzieren, dass sich Seewege in einer Region wie der Ostsee wieder sicher befahren lassen.
Dafür benötigt die Marine: vor allem eine ausreichende Anzahl schneller, schwer entdeckbarer und möglichst unbemannter Plattformen über und unter Wasser, um die Reaktionszeit eines Gegners zu unterlaufen.
Die Marine braucht mehr Maritime-Strike-Fähigkeiten, vor allem gegen die Bedrohung „Anti-Access/Area Denial“. Die bisherige Zahl an Landziel-geeigneten Lenkflugkörpern RBS15 auf den Korvetten der Braunschweig-Klasse ist begrenzt.
Bundeswehr/Marcel KrönckeDer Kampf gegen Ziele über Wasser und in der Luft ist notwendige Voraussetzung, um einen Gegner an der Nutzung eines Seeraumes zu hindern. Das ist für Versorgungsrouten über den Nordatlantik bis in die Ostsee besonders wichtig.
Dafür benötigt die Marine: weitreichende Sensorik für ein taktisches Überwasserlagebild sowie defensive und offensive Waffensysteme sowie schwimmende und fliegende Plattformen für den Kampf über Wasser.
Die Teildimension Unterwasser gewinnt rasant an Bedeutung. Moderne U-Boote und andere Unterwasserfahrzeuge können enormen Schaden anrichten. Selbst im Frieden schon: Denn Angriffe unter Wasser auf zivile und militärische Ziele sind schwer einem Verursacher zuzuschreiben.
Dazu benötigt die Marine: moderne Sensorik unter Wasser – sowohl ortsfest wie auch beweglich – und KIkünstliche Intelligenz-gestützte Auswertung für ein taktisches Unterwasser-Lagebild sowie defensive und offensive Waffensysteme, U-Boote und unbemannte Gefährte für den Kampf unter Wasser.
Die geographischen Bedingungen der Ostsee erfordern, Positionen zu sichern, die in gegnerischer Reichweite liegen. Bedrohungen kommen nicht nur aus der Luft durch Flugzeuge oder Lenkflugkörper, sondern gehen – gerade in hybriden Konflikten – auch von Spezialkräften und amphibischen Truppen aus. Die Marine muss auch Küstenbereiche schützen können und dort Präsenz zeigen.
Dafür benötigt die Marine: mobile infanteristische beziehungsweise landgestützte Kräfte, um Küstenbereiche see- und landseitig zu kontrollieren sowie auch von Land nach See wirken zu können.
Ein Bild über die maritime Gesamtlage, das die Anteile Unter- und Überwasser, Küste und Luftraum umfasst, ist Voraussetzung, um aktuelle Entwicklungen einzuschätzen und eigene Aktivitäten anzupassen. Diese Daueraufgabe bedarf einer besonderen maritimen, Bewertungskompetenz, die sich mit militärischen und zivilen Stellen – national und international – vernetzt.
Dafür benötigt die Marine: unbemannte eigene Sensorik für dauerhafte Datengewinnung sowie ausgestaltete Kooperationsbeziehungen zum Informationsaustausch mit anderen Stellen innerhalb und außerhalb der Bundeswehr, Behörden, zivilen Einrichtungen und der maritimen Wirtschaft. Dafür braucht die Marine geschultes Personal, ein Netzwerk für den Datenaustausch und KIkünstliche Intelligenz-Technologie zur Datenauswertung.
Herausforderung Datenflut: Marinestäbe und -führungsreinrichtungen müssen immer mehr Informationen über ein komplexes Umfeld verarbeiten
Bundeswehr/Marcus MohrFührungszentren müssen besonders widerstandsfähig sein, weil sie vorrangiges Ziel gegnerischer Aktivitäten sind. Die Marine verfügt mit dem Marineführungszentrum in Rostock bereits über ein stationäres maritimes Hauptquartier für den Ostseeraum. Sie muss zudem auch von See aus NATONorth Atlantic Treaty Organization-Marineverbände führen können.
Die Marine benötigt: ein zum Marineführungszentrum in der Stadtmitte Rostocks alter- natives, weiteres Hauptquartier, geprägt durch entfernte Lage und geschützte Gebäude; sowie ad hoc einsatzbereite Stäbe für die Führung in See, um im Führungsbereich insgesamt resilienter zu werden.
Die besonderen Eigenschaften des maritimen Operationsraums wie auch die Vorgaben der neuen NATONorth Atlantic Treaty Organization-Streitkräftestruktur fordern von der Marine umfassende Fähigkeiten. Dazu gehören Operationen sowohl auf dem offenen Atlantischen Ozean als auch in Nord- und Ostsee.
Für die Strukturen der Marine ab 2035 ist daher besonders wichtig: Kriegsschiffe müssen Seekrieg im Nordatlantik multidimensional und auf große Distanz führen können. Sie brauchen dafür auch eine hohe Durchsetzungs- und Überlebensfähigkeit. Unbemannte Systeme ergänzen die Abdeckung großer Räume. Die besondere Bedrohungslage in der Ostsee erfordert möglichst unbemannte, einfache, preiswerte und in hoher Stückzahl verfügbare Waffensysteme.
Die Marine muss bereit für intensive Gefechte werden, eine Vielzahl unbemannter Systeme anschaffen und Künstliche Intelligenz insbesondere für die Lagebildführung und -auswertung nutzen. Damit diese Marine Wirklichkeit werden kann, kommt es schon jetzt auf zwei Dinge an:
1. Der Weg in die Zukunft der Marine muss nachhaltig finanziert werden.
2. Schon jetzt gilt es, Einsatz und Betrieb unbemannter Systeme im Rahmen von Experimentiervorhaben zu erproben, Erfahrungen zu sammeln, um schließlich in die risikominimierte Beschaffung in den aufgezeigten Stückzahlen einzusteigen.
In einem möglichen Abnutzungskrieg in der Landes- und Bündnisverteidigung bedeutet Masse auch Resilienz. Das heißt:
Die Aufstellung der Marine muss:
Die Marine leistet einen Beitrag zum Gefecht der verbundenen Waffen durch:
Resilienz bedeutet die Fähigkeit, nach einem Schlag, weiter funktionieren zu können. Dafür ist erforderlich:
aktualisiert am 15.09.2023, d. Red.
Seestreitkräfte weltweit widmen autonomen Systemen immer mehr Aufmerksamkeit, allen voran USUnited States Navy und Royal Navy. Am Trend beteiligt sind aber auch weitere europäische Partner wie zum Beispiel Frankreich. Letztere setzen vor allem auf eine künftig unbemannte Minenabwehr.
Die 40 Meter lange „Sea Hunter“ ist seit 2016 ein Prototyp der USUnited States Navy für unbemannte Überwassersysteme. Der Trimaran hat bereits mehrere autonome Fahrten über lange Strecken hinter sich. Hier beim Großmanöver RIMPACRim of the Pacific 2022
US Navy/Aleksandr Freutel
Das LOCUST-Programm der USUnited States Navy hat 2017 Drohnenschwärme auch zur U-Boot-Abwehr getestet. LOCUST steht für Low Cost UAVUnmanned Aerial Vehicle Swarming Technology, also das Prinzip: Die Masse macht’s.
US Department of Defense
Die amerikanische „Nomad“ legte im Mai 2021 über 4.000 Seemeilen vom Golf von Mexiko bis nach Kalifornien zu angeblich 98 Prozent autonom zurück. Ihr Ladedeck dient zum Testen verschiedener Fähigkeitsmodule.
US Navy/Tyler R. Fraser
Drei Minenabwehr-Drohnen der britischen Marine. Die Royal Navy testet diese Systeme in Kooperation mit der französischen Marine Nationale seit 2020 mit der Auslieferung erster autonomer Boote.
Crown Copyright
Projekt „NavyX“: Die 42 Meter lange „Patrick Blackett“ ist seit Juli 2022 die Testplattform der Royal Navy für autonome Systeme. Ihr markantestes Merkmal ist das Ladedeck achtern für modulare, containerisierte Experimente.
Crown Copyright
Das 17 Meter lange, autonome U-Boot „Echo Voyager“ war 2016 der Prototyp für das Extra-Large Unmanned Underwater Vehicle „Orca“ der USUnited States Navy heute
US Navy
U-Boot-Drohnen wie die „Orca“ will die amerikanische Marine für Aufklärung und elektronischen Kampf, aber auch Minenabwehr nutzen. Hier bei der Übergabe vom Hersteller an die Navy im April 2022
Boeing
Eine mutmaßlich ukrainische Überwasser-Drohne, vermutlich angespült an der Küste der Krim im September 2022. Rund einen Monat später sollen sieben dieser Unmanned Surface Vessels die russische Flotte in Sewastopol attackiert haben.
Quelle: www.thedrive.com, 21.09.2022; Abruf 24.02.2023Fit für die Zukunft: Einstieg in unbemannte Systeme und Künstliche Intelligenz
Download der Broschüre PDF, nicht barrierefrei, 1,5 MB