Afghanistan – Das Scheitern im Großen
IF - Zeitschrift für Innere Führung- Datum:
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Dringendes Lernen geht nur mit Ehrlichkeit und Konsequenz auf allen Ebenen. Die deutschen Einsatzkräfte wurden im vergangenen Jahr unbeschadet in die Heimat zurückgebracht. Wie aber der internationale Afghanistaneinsatz zu Ende ging, versetzte Millionen afghanische Menschen in Angst und Schrecken. Für Afghanistanveteranen war es schockierend.
Veranlasst durch zwei USUnited States-Präsidenten, musste der Einsatz nach fast 20 Jahren bedingungslos und überhastet von allen Beteiligten abgebrochen werden. Im August 2021 endete der größte, teuerste und bei Weitem opferreichste Kriseneinsatz der westlichen Staatengemeinschaft und der NATONorth Atlantic Treaty Organization. Der Kollaps der Regierung und ihrer Sicherheitskräfte sowie das Chaos der Massenflucht am Flughafen Kabul sendeten Bilder eines großen Desasters um den Globus. Seit 2002 waren Männer und Frauen der Bundeswehr, aber auch des Auswärtigen Amts, der Entwicklungszusammenarbeit und der deutschen Polizei im multinationalen Einsatz in Afghanistan. Viele haben Kameradschaft wie sonst nie erlebt, haben gekämpft, wurden an Leib und Seele verwundet, haben Kameraden verloren. Im Auftrag von UNUnited Nations, Bundesregierung und Parlament sollten sie dazu beitragen, ein Land zu stabilisieren, sicherer zu machen und mit aufzubauen, das bis 2001 Rückzugsraum für internationale Terrorgruppen war. Das war notwendig, das machte Sinn. Und völlig richtig war die Absicht in der deutschen Führung wie bei etlichen anderen Verbündeten, ja nicht Besatzer werden zu wollen und die afghanische Übergangsregierung auf dem schwierigen Weg zu mehr Sicherheit und Frieden zu unterstützen und nicht zu bevormunden.
Als Mitglied des Verteidigungsausschusses bis 2009 war ich an den ersten 20 Afghanistan-Mandaten beteiligt. Bei 20 Besuchen vor Ort bis 2019 und vielen Begegnungen mit Afghanistanrückkehrern habe ich die Arbeit und Leistung der Entsandten schätzen gelernt: ihre Professionalität, Entschlossenheit, Besonnenheit und Verlässlichkeit.
Dass jetzt die Taliban an die Macht zurückkehrten, ist ein historisches Scheitern. Mehr noch, es ist zum Verzweifeln, vor allem für viele Menschen in Afghanistan, insbesondere die weibliche Hälfte der Bevölkerung. Es ist überdies zutiefst verstörend für Afghanistanveteranen. Der Schmerz wird verschärft durch die Art des internationalen Abzuges. Denn im Stich gelassen wurden sehenden Auges:
Die westliche Staatengemeinschaft traf damit den Grundwert Verlässlichkeit ins Mark. Dieser ist fundamental für kollektive Sicherheit wie für Kameradschaft. Der Schaden für die sicherheitspolitische Glaubwürdigkeit des Westens, aber auch für die Einsatzmotivation, ist noch gar nicht absehbar.
Offenkundig wurden die strategischen Ziele des Einsatzes im Wesentlichen verfehlt:
Das „strategische Scheitern“ (General Mark A. Milley, Chef des USUnited States-Generalstabs) hatte meiner Ansicht nach eine Fülle identifizierbarer Gründe. Auf Seiten der intervenierenden Staatengemeinschaft waren das – in unterschiedlichen Anteilen – vor allem:
Als Knackpunkt des gescheiterten Gesamteinsatzes sehe ich ein kollektives politisches Führungsversagen in vielen Hauptstädten. Das gilt auch für Berlin, wo man sich allerdings um mehr Nähe zur afghanischen Bevölkerung bemühte. Das Scheitern im Großen lag nach meiner Erfahrung eindeutig nicht am entsandten „Bodenpersonal“. Die deutschen Soldaten und zivilen Kräfte haben im Rahmen ihres legalen und grundsätzlich sinnvollen, wenn auch zu wenig klaren Auftrages ihre Aufgaben mit vollem Einsatz und Mut sowie viel fachlicher und interkultureller Kompetenz erfüllt.
Am scharfen Ende ihres Berufes haben sich die Bundeswehrsoldaten voll bewährt, sie waren vor allem ab 2010 durchsetzungsstark. Militärische Gewalt setzten sie kontrolliert ein und nahmen bei Gefechten Rücksicht auf die Zivilbevölkerung.
Für diese Leistungen gebührt ihnen Interesse, Anerkennung und Dank. Das Scheitern im Großen überschattet das Engagement der Einsatzkräfte, macht es aber keineswegs sinnlos.
„Aus dem Einsatz lernen“ ist bei der Bundeswehr auf taktischer und operativer Ebene ständige Praxis. Jetzt ist es an der Zeit, dass Afghanistanveteranen auch ihre kritischen Einsatzerfahrungen zur Sprache bringen können. Verantwortungsträger in der Bundeswehr müssen sich kritisch hinterfragen, ob ihr militärischer Ratschlag deutlich genug war, oder ob sie zur Kaskade der Schönfärberei beigetragen haben. Zugleich sollten Veteranen offener aus ihrer so anderen Einsatzwelt berichten. Jetzt kann die verbreitete Sprachlosigkeit zwischen Gesellschaft und Einsatzsoldaten überwunden werden.
Wo politische Führungen für das strategische Scheitern in Afghanistan hauptverantwortlich waren, muss gerade auf der politisch-strategischen Ebene bilanziert und gelernt werden.
Einige wesentliche Lehren liegen aber längst auf der Hand: Erstens ist von vornherein ein tiefes Konfliktverständnis und eine ehrliche Interessendefinition notwendige Voraussetzung für einen klaren Auftrag mit erfüllbaren und überprüfbaren Zielen, eingebunden in eine – bisher nie vorliegende – zivil-militärische Strategie. Das Zweite ist eine konsequente Wirkungsorientierung. Sie ist zwingend angewiesen auf ein rücksichtslos-ehrliches Berichtswesen durch die ganze Hierarchie und regelmäßige, auch unabhängige Wirkungsanalysen. Kriseneinsätze in internationaler Verantwortung sind zwingend auf viel mehr Ehrlichkeit und Konsequenz angewiesen. Nicht zuletzt auch in Verantwortung für die Einsatzkräfte.
Vielseitig. Analytisch. Kontrovers.