Tarnung in der Bundeswehr
Tarnung ist mehr als das Verstecken hinter einem Tarnnetz. Sie ist eine Wissenschaft.
Tarnung ist mehr als das Verstecken hinter einem Tarnnetz. Sie ist eine Wissenschaft.
Es ist kurz vor Morgengrauen. Über dem Wald liegt Nebel, der Boden ist feucht vom Nachtfrost. Ein Scharfschütze liegt in seinem Versteck: der Atem kontrolliert, das Visier auf eine Lichtung gerichtet. Nur das matte Ende des Gewehrlaufs und eine dunkle Silhouette verraten seine Position. Für den ungeübten Blick ist der Soldat Teil des Unterholzes und kaum zu erkennen – denn er ist gut getarnt.
Was für Scharfschützen Routine ist, wird auch für alle anderen Soldatinnen und Soldaten immer relevanter. „Tarnen war nie nur Sache von Spezialeinheiten“, sagt Alexander Degen*, der seit mehr als 30 Jahren beim Wehrwissenschaftlichen Institut für Werk und Betriebsstoffe in Erding Tarnmuster entwickelt. Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt sehr deutlich, dass Tarnen überlebenswichtig sein kann. Der Krieg ist geprägt von unbemannten Systemen, die aus sicherer Distanz die Signaturen der Soldatinnen und Soldaten erfassen. Umso wichtiger ist es, die eigenen Merkmale zu minimieren, sowohl die sichtbaren als auch die thermischen und radarspezifischen.
Denn aus der Perspektive einer Aufklärungsdrohne zählt mehr als die Tarnfarbe: Kanten, glänzende Teile von zum Beispiel einer unbedeckten Metallplatte, die eigene Körperwärme oder eine winzige Bewegung können zum Verhängnis werden und den Auftrag sowie das eigene Leben gefährden.
Fünf-Farben-Tarndruck: Das Tarnmuster, auch Flecktarn genannt, wurde für den Einsatz in heimischen Wäldern entwickelt. Es bildet die Grundlage für das neue Multitarn.
Bundeswehr/C3„Tarnen und Täuschen ist kein Relikt vergangener Kriege, sondern Überlebensvorsorge“, bringt es Textilchemiker Degen auf den Punkt. Was früher mit Laub und Farbe gemacht wurde, ist heute ein komplexes Zusammenspiel aus Musterdesigns, Materialeigenschaften und verschiedenen Maßnahmen gegen optische, nahinfrarote und thermische Aufklärung. Genau darum geht es im einwöchigen Lehrgang „Minderung der Entdeckbarkeit“, der sechsmal jährlich im Technologiestützpunkt Tarnen und Täuschen der Bundeswehr stattfindet. Der Stützpunkt liegt etwas versteckt im brandenburgischen Storkow und ist bekannt für täuschend echte Attrappen. Schon zu NVANationale Volksarmee-Zeiten entstanden hier Nachbildungen von Panzern und Radaranlagen, um den Feind zu täuschen. Heute fokussiert man sich eher auf kleinere Systeme, zum Beispiel Attrappen von Kleinkampfmitteln oder Panzertürmen für die Ausbildung. Degen ist oft hier, um im Gelände neue Tarnmittel oder Uniformen zu testen. Heute, an einem verregneten Dienstag im Oktober, steht er im Unterrichtsraum und bringt 15 Soldaten „Tarnung mit Textilien – Möglichkeiten und Grenzen“ näher.
In einer kleinen Dienststelle der Bundeswehr bauen zivile Spezialisten verblüffend echt wirkende Turmattrappen russischer Schützenpanzer.
„Tarnung ist nichts Statisches. Sie muss Umgebung, Funktion, Sensorik, Sicherheit und Taktik vereinen“, sagt Degen. Bei der Entwicklung eines Tarnmusters gibt es viele Möglichkeiten. So kann man beispielsweise vom derzeitigen Fünf-Farben-Tarndruck, dem klassischen Flecktarn, ausgehen und schauen, wie dort die Farben verteilt sind: Dunkelgrün 35 Prozent, Braun und Helloliv je 20 Prozent, Hellgrün 15 Prozent und Schwarz 10 Prozent. Dann braucht es möglichst viele Informationen zum neuen Einsatzraum, für den ein neues Tarnmuster entwickelt werden soll: Welche Vegetation und welche jahreszeitlichen Veränderungen gibt es? Welche Farben und Strukturen prägen das Gelände? Daraus entsteht am Computer eine Collage, die wiederum auf ihre fünf Hauptfarben reduziert wird. Diese Farben bekommen, sortiert nach Helligkeit, eine Entsprechung im klassischen Fünf-Farben-Tarndruck: Schwarz bleibt Schwarz, Dunkelgrün entspricht Dunkelgrau und so weiter. Danach werden die Farben gemäß ihres Flächenanteils ersetzt, das heißt Schwarz hat im Fünf-Farben-Tarndruck den geringsten Flächenanteil.
Im betrachteten Einsatzraum – einem städtischen Industriekomplex – wäre die Ersatzfarbe Weiß. So entstehen neue Muster, die anschließend als Prototypen genäht und im Feld getestet werden.
Doch Tarnung endet nicht beim sichtbaren Licht: „Ein gutes Muster darf nicht nur für das Auge funktionieren, sondern muss auch im nahen Infrarot und Wärmebild unauffällig sein“, betont Degen. „Was nützt ein schönes Muster, wenn es unter Restlichtbedingungen leuchtet oder die thermische Signatur nicht reduziert?“
Wärmebildaufklärung: Bei der neuen Bekleidung wurde darauf geachtet, sie an die aktuellen Herausforderungen anzupassen
Bundeswehr/Christian Vierfuß
Es ist deutlich erkennbar, dass die Kälteschutzjacke (rechts) besser vor Wärmebildaufklärung schützt als eine Feldbluse
Bundeswehr/Christian VierfußUm diesen Anforderungen gerecht zu werden, rüstet die Bundeswehr schrittweise auf Multitarn um, als Ersatz für das seit den 1990er-Jahren genutzte Flecktarn. „Multitarn ist in Mischlandschaften und urbanen Räumen unauffälliger und gegenüber moderner Sensorik optimiert“, sagt Degen. „Flecktarn wirkt in der Steppe zu dunkel und in der Stadt ist es zu kontrastreich.“ Multitarn breche die Form weicher und passe sich den Umgebungen besser an, erklärt der Experte. Jede Entwicklung eines Tarnmusters ist immer auch ein Kompromiss: Ein Muster ist selten überall das Beste, aber idealerweise auch nirgendwo das Schlechteste.
Für Lehrgangsteilnehmer Dennis Gaube* hat der Kurs eine unmittelbare Bedeutung. Der Hauptfeldwebel ist Notfallsanitäter und seit 2007 bei der Bundeswehr. Erst im Februar ist er aus dem Baltikum heimgekehrt. „Früher waren unsere Fahrzeuge bei Angriffen tabu, daher wurde das Thema Tarnung oft eher stiefmütterlich behandelt“, sagt er. Der Krieg in der Ukraine hat dies verändert: Auch Rettungsfahrzeuge werden zum Ziel. Wenn es die Situation verlangt, sollten deshalb auch Sanitätskräfte wissen, wie man sich und sein Fahrzeug tarnt. „Auf Übungen in Litauen wird das zum Beispiel schon praktiziert“, erklärt Gaube. „Wenn ich ein Fahrzeug so tarne, dass es wie ein ziviles Lieferauto aussieht oder gar nicht erkannt wird, rette ich vielleicht Leben.“
Hauptfeldwebel Gaube und seine Kameraden stehen um eine große grüne Kiste herum. Darin befindet sich Material, um mit einem FIR-Tarnnetz – FIR steht für Fernes Infrarot – einen Anbau an einer Halle vorzutäuschen. Eine größere Halle und Tarnmöglichkeiten für Fahrzeuge sollen dadurch entstehen. Die Soldaten gehen direkt ans Werk: Es werden Stangen zusammengesteckt, Panzertape verklebt, gehämmert und Schnüre geknüpft. Alle arbeiten Hand in Hand, obwohl sie sich kaum kennen. Nach knapp 25 Minuten steht die Tarngarage. Von innen hat man einen guten Blick auf die Umgebung, von außen ist nicht sichtbar, wer sich gerade unter dem Netz befindet. Genau darauf kommt es in einem Konfliktfeld mit permanenter Drohnen- oder Satellitenaufklärung an.
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Die Soldaten versammeln sich vor einer Mitschauanlage: Auf dem Bildschirm erscheinen die Livebilder einer Wärmebildkamera. Einer der Soldaten hält sich einen Holzrahmen mit einem eingespannten blauen Müllsack vor das Gesicht. Für die Wärmebildkamera ist er sichtbar wie eine Leuchtfigur: „Was wir mit unseren Augen sehen, ist nicht das, was die Drohne oder Wärmebildkamera erkennen kann“, erklärt Hauptmann Jan Heikamp*. Der Dienststellenleiter in Storkow und ausgebildete Spähoffizier zeigt den Teilnehmern verschiedene Materialien, die die thermische Signatur unterbinden: Rettungsdecken und auch Zeitungen absorbieren Wärme gut, durchsichtige Folien bringen dagegen nichts. Besonders geeignet ist Fensterglas: „Für Wärmebildsensoren wirkt es wie ein Spiegel. Man sieht nur, was sich davor befindet“, sagt Heikamp. Ein einfacher Regenschirm erweist sich ebenfalls als erstaunlich wirksam. Kombiniert mit einem Tarnnetz ist er ein improvisierter, aber funktionaler Schutz vor Aufklärung aus der Luft.
„Mir ist klar geworden, wie vielschichtig Tarnen ist. Es verbindet Wissenschaft, Handwerk, Technik und Instinkt.“
In kleinen Einheiten fehlt häufig spezielles Tarnmaterial, dann heißt es improvisieren. Auch darum geht es im Lehrgang. In vielen kleinen Übungen lernen die Soldaten, das Material zu benutzen, was sie im Umfeld finden. Mit Holzpaletten, Planen und Rollen wird aus einem Geländewagen Wolf schnell ein Traktor. Mit Tarnnetz, Ästen, Steinen und Gräsern ist ein Siebentonner auf der Wärmebildkamera kaum noch zu sehen. „Mir ist klar geworden, wie vielschichtig Tarnen ist. Es verbindet Wissenschaft, Handwerk, Technik und Instinkt“, sagt Gaube. Er wünscht sich, dass viele den Lehrgang besuchen, der allen Teilstreitkräften und Dienstgradgruppen offensteht. Denn Tarnen und Täuschen seien kein Selbstzweck, sondern ein wesentlicher Bestandteil in der modernen Gefechtsführung. Mit Wissen, Übung und dem richtigen Blick für Material und Kontext lässt sich die Sichtbarkeit der Soldatinnen und Soldaten entscheidend reduzieren und im Ernstfall Leben retten.
*Mit Sternchen gekennzeichnete Namen sind zum Schutz der Personen geändert.
von Beate Schöne