Flutkatastrophe im Ahrtal: Aufgeben ist keine Option
Flutkatastrophe im Ahrtal: Aufgeben ist keine Option
- Datum:
- Ort:
- Rheinland-Pfalz
- Lesedauer:
- 7 MIN
Hauptmann Adrian Baral ist Soldat der Bundeswehr. Seinen Dienstantritt hatte er im August 2010 an der Offizierschule der Luftwaffe in Fürstenfeldbruck. Seit 2017 ist der 30-jährige in Köln stationiert. Als er eine Woche vor der Flutkatastrophe durch das idyllische Ahrtal fährt, ahnt er nicht, dass er schon bald dorthin zurückkehren würde – erst recht nicht, aus welchem furchtbaren Grund. „Vielleicht war das so eine Art Schicksalswink“, sagt er.
Zwischen Frustration und Tatendrang
Zum Zeitpunkt der Flutkatastrophe war Baral für die Corona-Amtshilfe eingeplant. Am Freitag nach der Flut bekam er einen Anruf mit der Information, dass letztere zur Fluthilfe geändert worden sei. „Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch gar nichts von der Katastrophe gehört“, so Baral. Der Soldat kennt Überschwemmungen aus seiner Heimat und er rechnete mit vollgelaufenen Kellern. „Ich dachte, wir machen irgendetwas mit Sandsäcken und bauen vielleicht den ein oder anderen Damm“, erinnert er sich.
„Einigermaßen zweckmäßig“ mit Nässeschutz und einem zweiten Paar Stiefel saßen die eingeteilten Soldatinnen und Soldaten zu Hause auf Abruf. „Mein Interesse war längst geweckt und ich habe das ganze Wochenende über Bilder aus dem Ahrtal gesehen“, sagt Baral. „Es war frustrierend, zu Hause zu sitzen und nichts tun zu können. Irgendwann dachte ich: Ich fahre da jetzt einfach hin!“.
Ähnliches dachten sich auch die Mitglieder der Deutschen Alpenvereinssektion (DAV) Köln, die sich als freiwillige Helfer im Ahrtal engagieren. Über einen Kameraden aus Köln wurde Baral ebenfalls Mitglied des DAV und der Gemeinschaft aus Helfern. „Als Mitglied war es mir möglich, die Kleinbusse des Vereins zu fahren und somit Helfer und Material ins Einsatzgebiet zu bringen“, erklärt Baral.
Diese komische Linie an den Hauswänden
Am 23. Juli fuhr Baral das erste Mal als Helfer ins Katastrophengebiet. Das Bild, das sich ihm vor Ort bot, war schockierend: Es war gespenstisch ruhig und dunkel in den Straßen. Elektrisches Licht gab es kaum mehr. An fast allen Häusern wurden Menschenketten gebildet, um mit Eimern die Massen an Schlamm herauszuschaffen. Entlang der Straßen reihten und stapelten sich kaputte Autos wie Spielzeuge übereinander. Straßen waren als solche nicht mehr zu erkennen und auch viele Brücken, die teilweise 400 Jahre überdauert hatten, gab es nicht mehr. Ein asphaltierter Fahrradweg endete einfach in einer steinigen Abbruchkante am Ufer. Ein Teil der Bahngleise, die einst parallel zum Fahrradweg verliefen, hingen, einer Strickleiter gleich, vom aufgespülten Hang in die Ahr hinein. Die ungeheure Kraft mit der das Wasser massive Brücken, Betonpfeiler und Bahnstrecken buchstäblich platt gemacht hatte, war unvorstellbar. Die Ahr, die in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli zum reißenden Strom wurde, liegt mittlerweile wieder als beschauliches Flüsschen ruhig in ihrem Bett.
„Zu Beginn habe ich noch gar nicht wirklich verstanden, wie hoch das Wasser eigentlich stand“, erzählt Baral. „Irgendwann habe ich dann erfasst, dass diese komische Linie an den Hauswänden, unter der der Putz dunkler wurde, der Pegelstand gewesen ist.“ Nach einem kompletten Wochenende als Helfer war ihm klar: Jede mögliche Hilfe wird dringend gebraucht.
Schlamm schaufeln statt Sandstrand
„Wir hatten Glück, dass wir nicht als erste dort waren“, erinnert sich Baral. „So konnten wir nach links und rechts schauen und sehen, wie es die anderen machen.“ Die Arbeitsabläufe haben sich schnell eingespielt und mit den neuen Aufgaben wurde auch neues Werkzeug beschafft. Zwar gab es vor Ort einen Werkzeugverleih und gespendetes Material, das meiste wurde in der Gruppe allerdings privat beschafft. „Am ersten Tag kamen wir hier noch ziemlich unprofessionell an. In diesem Ausmaß hatte ich vorher noch nie handwerkliche Arbeit verrichtet“, erinnert sich Baral. „Mittlerweile ist mein ganzer Kofferraum voller Werkzeug.“ Die erste offensichtliche Aufgabe nach der Flut war es, der Schlammmassen Herr zu werden. „Das war körperlich sehr harte Arbeit“, erzählt der Hauptmann. Dann musste der Putz von den nassen Wänden geschlagen werden, Trockner wurden aufgestellt, um die hohe Luftfeuchtigkeit aus den Gemäuern herauszuholen. Die Helfergruppen gingen dabei höchst effizient und strukturiert vor.
So suchten sie sich für eine Aktion eine Adresse heraus. Eineinhalb Tage später war der Keller entrümpelt und zur Trocknung bereit. Als Weinanbaugebiet leben im Ahrtal viele Winzer, die durch die Flut große Ertragseinbußen erlitten haben. Hier versuchten die Helfer auch ihr Möglichstes zu tun und aus den zerstörten und schlammigen Weinkellern zu retten, was noch zu retten war.
Erholungsurlaub für die Fluthilfe
„Ich hatte aufgrund vieler Lehrgänge noch fünf Wochen Urlaub. Im Juli kam die Flutkatastrophe. „Ich wollte zu Beginn nur drei Wochen helfen und die restlichen zwei für mich nehmen“, sagt Baral. „Aber nach den drei Wochen ging das einfach nicht. Ich habe es nicht übers Herz gebracht zu Hause zu bleiben.“ Das Ausmaß der Zerstörung und die Menge an Arbeit machten für ihn eines ganz deutlich: „Ich kann hier jetzt nicht weg. Ich werde gebraucht.“ Vielleicht bekommt Baral Urlaubstage zurück, aber im Endeffekt wäre es ihm egal. „Man schaut hier jeden Tag in so viele Gesichter von Menschen, die alles verloren haben. – Was ist schon ein Urlaubstag dagegen?“
„Durch die Arbeit im Ahrtal werden persönliche Probleme enorm relativiert“, findet Baral und erzählt, wie er an einem Abend nach einem gewittrigen Tag von der Arbeit im Ahrtal in seine Wohnung zurückkehrte, um festzustellen, dass er sein Dachfenster offenstehen ließ. „Ich habe in der Diele gestanden und mich so geärgert, dass alles nass war“, erzählt er. „Dann musste ich selber über meinen Ärger lachen.“
Die Menschen in der Region sind auf die Hilfe Freiwilliger angewiesen. Viele haben alles verloren, stehen vor einem Berg von Problemen und müssen von Null beginnen. Die Dankbarkeit, mit der sie den Helfern begegnen, ist groß. „Ich bin recht überwältigt, dass man Dankbarkeit mit solch einer Konstanz über solch einen langen Zeitraum überhaupt aufrechterhalten kann“, beschreibt Hauptmann Baral seine Eindrücke. „Wenn Menschen hier danke sagen, dann tun sie das nicht, weil es eine gesellschaftliche Gepflogenheit ist, sondern weil sie es im tiefsten Inneren auch so meinen. Wahrscheinlich können sie gar nicht so oft „Danke“ sagen, wie sie es müssten, um auszudrücken, was sie fühlen.“
Aufgeben ist keine Option
Es gibt ein Haus in Dernau, das besonders ins Auge springt. Es ist bunt und strahl als eines der wenigen zerstörten Häuser so etwas wie Fröhlichkeit aus. In großen Buchstaben leuchtet ein Schriftzug unter den Fenstern der ersten Etage: „Aufgeben ist keine Option“, steht dort. Und neben zahlreichen gemalten Herzen, Smileys und Blumen heißt es außerdem: „SoldidAHRität“, „Ahrtal lebt“, „Dernau – Home“. Es soll Mut machen und neue Hoffnung in die Trostlosigkeit bringen. Das Haus gehört einem Ehepaar, das Adrian Baral mittlerweile gut kennt. „Wir dürfen hier ein und aus gehen“, sagt er und erzählt, dass die Helfer sogar zur Geburtstagsfeier im Hof eingeladen wurden. Das Ehepaar habe trotz des Chaos einfach Geburtstag gefeiert. „Ganz normal mit Familienangehörigen und wir Helfer waren dabei, als würden wir dazu gehören“, erzählt Baral.
In dem Haus stand das Wasser bis in die erste Etage. Auf dem Wasser schwamm eine dicke Schicht roten Heizöls, denn bei der Flut wurden die Tanks beschädigt und das giftige Öl drang in die Wände ein. Das Haus des Paares ist nicht mehr zu retten.
Noch immer: „Helfer gesucht!“
Baral hat vor Ort viel Eigeninitiative erlebt. Es kamen freiwillige Helfer vom Fußballclub Augsburg, eine Gruppe junger Erwachsener sagte ihren Schwedenurlaub ab, um eine Woche vor Ort zu helfen. Auch viele Soldaten besuchten das Ahrtal bei Wehrübungen, um mit anzupacken. „Das Ansehen der Bundeswehr hier ist recht hoch“, sagt Baral. Zu Recht, findet er, denn „die Kameraden, die hier waren, waren sehr fleißig“. Die Versorgung und Unterbringung der Helfer ist sichergestellt. Es gibt verschiedene Helfercamps oder es wird privat auf Feldbetten in den Häusern übernachtet, die nicht kontaminiert sind.
In den drei Monaten, die seit der Katastrophe vergangen sind, ist schon viel passiert. „Einfache Arbeiten wie Schlamm schaufeln sind im Grunde vorbei“, so der 30-Jährige. Allerdings sind nicht alle Dörfer im Katastrophengebiet gleich weit vorangekommen. So werden mancherorts immer noch Keller entrümpelt, während der Ort Dernau schon viel weiter ist. „Hier ist die Versorgung und Entwicklung sehr fortgeschritten“, sagt Baral und erklärt, „in Dernau war die Zahl an Hilfskräften und schwerem Gerät extrem hoch. Es gibt abgelegene Orte, in denen es noch deutlich schlechter aussieht.“
Auch wenn jetzt „Facharbeiten“, wie Heizungsbau und Kanalisationsarbeiten anstehen: Hilfe, auch von Laien auf diesen Gebieten, wird immer gebraucht. „Die Leute müssen es eben wollen“, sagt Baral und ergänzt, „warmes Essen und Kaffee sind wichtig für die Motivation der Helfer. Auch das muss organisiert und erledigt werden und eine Schöpfkelle kann jeder bedienen.“
Über die Monate hat sich ein Netzwerk aus Helfergruppen und Organisationen gebildet, die sich gegenseitig unterstützen. Das sorgte für effiziente und koordinierte Arbeit. Viele der Helfer wurden zu Organisatoren, die koordinativ tätig sind und sich vernetzen. Um nicht immer wieder bei null anfangen zu müssen, muss die Erfahrung erhalten und an Nachfolger weitergegeben werden. Denn wenn die Erfahrenen gehen, weil der Urlaub vorbei ist, muss es trotzdem weitergehen. Eine konstante Infrastruktur, wie beispielsweise das „Helfer-Shuttle“, ist dabei Gold wert. Am wichtigsten aber sind die Menschen, die mit Willensstärke, Zusammenhalt und Hilfsbereitschaft, freiwillig mit anpacken: Mit „SolidAHRität“ für das Ahrtal!