Systemische Resilienz am Beispiel der NATO

Systemische Resilienz am Beispiel der NATO

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Systemische Resilienz am Beispiel der NATO

Resilienz spielt für die NATO bereits seit ihrer Gründung eine entscheidende Rolle. Hybride Mittel stellen die Widerstandskraft des Bündnisses und seiner Teile heute immer stärker mit auf die Probe.

Komplexe Systeme wie der menschliche Körper oder die ökologische Kooperation in der Natur haben eine Antwort auf die Herausforderungen und Bedrohungen für die Stabilität von Systemen entwickelt: Adaptation und Evolution. Das heißt nichts anderes als die Anpassung an äußere Umstände, um durch Verbesserung des eigenen Systems das eigene Fortkommen zu sichern. Wir bezeichnen dieses Phänomen als „Komplexes Adaptives System“ (KASKonrad Adenauer Stiftung), welches vom Ameisenbau über den Menschen und seine sozialen Strukturen bis hin zu kollektiver Sicherheit seine Anwendung finden kann. Als zentraler Akteur für die kollektive Sicherheit in Europa würde es auch der NATO helfen, sich als Teil eines KASKonrad Adenauer Stiftung zu betrachten und danach zu handeln.  

Die Bedrohungen für das NATO-Bündnis

Die Russische Föderation versucht, wie die Sowjetunion zuvor, seit mehreren Jahrzehnten auf hybridem Wege Einfluss auf Staaten und Bürger im „nahen Ausland“ zu nehmen. Die russische Regierung bewegt sich bewusst im Graubereich zwischen offenem militärischem Konflikt und vollständig verdeckten „weichen“ Aktionen gegen nicht-militärische Strukturen in der NATO oder Partnerländern. Die Abschreckung und Verteidigung insbesondere durch nukleare Fähigkeiten der Allianz und die konventionellen Möglichkeiten durch Artikel 5 des Nordatlantikvertrages trugen mit dazu bei, dass der Ost-West-Konflikt weder aktuell noch in Hochzeiten des Kalten Krieges offen eskalierte. Diese Abschreckung war jedoch nicht wirkungsvoll, wenn es darum ging, Russland von militärischen Aktionen gegenüber NATO-Partnern wie der Ukraine abzuhalten oder Eingriffe in die staatliche Souveränität von NATO-Mitgliedern zu unterbinden. Russische Einflussnahme richtet sich nicht nur gegen einzelne Staaten und deren Institutionen, sondern zielt auch auf Differenzen zwischen den Alliierten – aktuell das Verhältnis der Türkei zum transatlantischen Bündnis – oder die unterschiedlichen Wahrnehmungen hinsichtlich der größten Bedrohung für die eigene Sicherheit.  

Resilienz als Aspekt der NATO-Verteidigungsfähigkeit

Wie kann das Bündnis stabil gehalten und vor Einflussnahme von außen geschützt werden? Die Antwort ist eine Strategie, die eine systemische Resilienz als Basis zur Erfüllung der NATO-Kernaufgaben formuliert. Dabei lohnt der Blick sowohl auf die eigene Geschichte als auch die Anknüpfungspunkte mit vorhandenen Resilienz-Konzepten. Bereits 1941 zielte die NATO im Artikel 3 des Nordatlantikvertrages auf Resilienz ab. Die erforderliche „Widerstandskraft“ musste aktiv aufgebaut und erhalten werden. Ein gutes Beispiel bietet die Harmel-Gruppe der 1960er-Jahre. Die Ergebnisse halfen, die Ausrichtung der NATO sowohl nach innen als auch außen zu verbessern und die Allianz insgesamt zu stärken. In Ergänzung zu Artikel 3 hat die NATO ihre Definition von Resilienz konkretisiert. In Ergänzung zu Artikel 3 hat die NATO ihre Definition von Resilienz fortlaufend konkretisiert, zuletzt im Juni 2021. Der Bericht NATO 2030 (1) hat ebenfalls Vorschläge zur Verbesserung unterbreitet. Es fehlt eine ganzheitlich verstandene Konzeption Alliierter Resilienz im Lichte der inneren und äußeren Bedrohungen, die als zentraler Aspekt der Verteidigungsfähigkeit verstanden und konstruiert werden muss. Unter Rücksichtnahme auf die Souveränität der NATO-Mitglieder muss sich die Allianz selbst einer ständigen Selbstanalyse und Adaptation unterziehen. Diese erweiterte Resilienz Strategie führt dann zu konkreten Konzeptionen, die die Reaktion auf die komplexe Umgebung widerspiegeln. 

(1) https://www.nato.int/nato_static_fl2014/assets/pdf/2020/12/pdf/201201-Reflection-Group-Final-Report-Uni.pd

von Benjamin Pommer

Ein KASKonrad Adenauer Stiftung besteht aus Elementen, so genannten „Agenten“, welche sich zueinander und mit ihrer Umgebung im ständigen Austausch durch interne Rückmeldungszyklen („feedback loops“) befinden.(2) Durch ständige Evolution erhält das System seine Stabilität. Dies erfordert eine Anpassung in Phasen von Instabilität, da ansonsten das System und seine Komponenten zerfallen würden. Dieses abstrakte Konzept lässt sich auf Mikroorganismen, den menschlichen Organismus, ökologische Kooperation und Internationale Beziehungen anwenden, um Risikoanalysen und Überlebensstrategien entwickeln zu können.

(2) Christopher Bassford, Chapter 1, “The Environment within which Military Strategy is made,” in Policy, Politics, War, and Military Strategy, published in 1997 and updated in 2006.

Moderne Kriege zeichnen sich durch den Einsatz hybrider Elemente, zum Beispiel den Kampf im Cyber- und Informationsraum oder etwa durch die Ausnutzung Künstlicher Intelligenz aus. Durch die digitalen Möglichkeiten einer globalisierten Welt ergeben sich neue Elemente der hybriden Kriegführung, die sich staatliche und nicht-staatliche Akteure zunutze machen. Russland versteht es sehr gut interne politische Differenzen auszunutzen und damit die Handlungsfähigkeit von Staaten oder der NATO als Ganzes zu beeinträchtigen. Hybride Kriegführung besteht aus eng koordinierten militärischen und nicht-militärischen Instrumenten, die von irregulären Stellvertretern und verdeckt operierenden Streitkräften gleichermaßen genutzt werden können.(3) In dieser so genannten „Grauzone“ bringen Akteure wie Russland Mittel zur Anwendung, um damit ihre politischen Ziele zu erreichen, ohne zwingend eine konventionelle Reaktion der Gegenseite auszulösen.(4)

(3) Margarete Klein, “Russia’s Military Policy in the Post-Soviet Space: Aims, Instruments and Perspectives,” SWPStiftung Wissenschaft und Politik Research Paper 1 (January 2019), 17.

(4) Ben Connable, et al., Russia’s Hostile Measures: Combating Russian Gray Zone Aggression Against NATO in the Contact, Blunt, and Surge Layers of Competition (Santa Monica, CA: RAND Corporation, 2020), 5.

„Um die Ziele dieses Vertrags besser zu verwirklichen, werden die Parteien einzeln und gemeinsam durch ständige und wirksame Selbsthilfe und gegenseitige Unterstützung die eigene und die gemeinsame Widerstandskraft gegen bewaffnete Angriffe erhalten und fortentwickeln.“(5)

(5) https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de

Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.

Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.“(6)

(6) https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de

Auch wenn die NATO im Kalten Krieg aus weniger Mitgliedern bestand und einer etwa regional eingegrenzten äußeren Bedrohung standhielt, so waren die Herausforderungen für die Stabilität des Bündnisses und die europäische Sicherheit in den 1950ern und 1960ern vergleichbar gefährlich. Streitigkeiten über finanzielle Lastenverteilung zwischen den Mitgliedern, das Verhältnis zu den osteuropäischen Gegnern und den Einfluss der USA auf die Verteidigungsstrategie führten Ende der 1960er zum Austritt Frankreichs aus der militärischen Kommandostruktur der NATO. Das Gebot der Stunde war ein hoher Druck zur Anpassung des Bündnisses an die inneren und äußeren Gegebenheiten, ohne dabei den Charakter eines Verteidigungsbündnisses zwischen souveränen demokratischen Staaten zu verlieren. Der Nordatlantikrat beauftragte den damaligen belgischen Außenminister Pierre Harmel mit der Bildung einer Arbeitsgruppe, die schlussendlich nicht nur einen umfassenden Bericht mit Verbesserungsvorschlägen erarbeitete, sondern eine Klarstellung der Ausrichtung als militärisch-politisches Bündnis erreichte.

„73. Heute haben wir uns verpflichtet, unsere Resilienz weiter zu steigern sowie unsere individuellen und kollektiven Fähigkeiten zum Widerstand gegen jede Form des bewaffneten Angriffs aufrechtzuerhalten und weiter zu entwickeln. Die zivile Vorsorge ist ein zentraler Pfeiler der Resilienz der Bündnispartner und eine entscheidende Voraussetzung für die Bündnisverteidigung. Ungeachtet der unverändert nationalen Verantwortung für diese Aufgabe, kann die NATO die Bündnispartner bei der Beurteilung und, auf Aufforderung, bei der Verbesserung ihrer zivilen Vorsorge unterstützen. Mit den Grundsätzen der NATO für die nationale Resilienz (NATO Baseline Requirements for National Resilience), werden wir die zivile Vorsorge verbessern, deren Schwerpunkt auf der Aufrechterhaltung der Regierungsgewalt, der Aufrechterhaltung lebenswichtiger Dienstleistungen, dem Schutz kritischer ziviler Infrastruktur und der Unterstützung der Streitkräfte mit zivilen Mitteln liegt. In diesem Zusammenhang begrüßen wir die von den Verteidigungsministern im Juni 2016 gebilligten Leitlinien für die Resilienz (Resilience Guidelines).“(7)

(7) https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_133169.htm#cep

Im Rahmen des 2021 NATO-Gipfels am 14. Juni haben die Staats- und Regierungschefs ihr Bekenntnis zur Stärkung Alliierter Resilienz bekräftigt. Ausgehend von Artikel 3 des Nordatlantikvertrages haben die Mitgliedsstaaten die nationale Rolle bei der Bildung von Resilienz betont und gleichzeitig den ganzheitlichen bzw. gesamtstaatlichen Ansatz unterstrichen, um der Komplexität des internationalen Sicherheitsumfeldes begegnen zu können. Dieser Anspruch erfordert jedoch eine Abstimmung und Unterstützung innerhalb der Allianz, sodass alle Mitgliedsländer in die Lage versetzt werden, den gemeinsamen Ansatz zu verfolgen sowie national umzusetzen.(8) Der Wille und die Fähigkeit, sich den sicherheitspolitischen Gegebenheiten anzupassen, bilden damit die Grundvoraussetzung Alliierter Resilienz. Darauf aufbauend muss das Verständnis fußen, dass Resilienz auch das Ergebnis des Grades zivil-militärischer Kooperation ist, die sich auf innerstaatliche Bereiche und internationale Organisationen erstreckt. Die Stabilität des europäischen Sicherheitssystems wird somit durch verschiedene Akteure getragen und bestimmt. Die NATO ist einer der entscheidenden und einflussreichsten Organisationen.

(8) https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_185340.htm

Eine Strategie, die sich an der feindlichen (hybriden) Einflussnahme und den eigenen Verwundbarkeiten auf Basis einer ganzheitlichen, multilateralen zivil-militärischen Zusammenarbeit ausrichtet. Obwohl die Souveränität der Mitgliedsländer bei der Umsetzung nicht beeinträchtigt wird, muss eine systemische Resilienz Teil eines gemeinsamen Verständnisses von Kollektiver Sicherheit und Verteidigung insofern werden, dass NATO eine Stabilität des Systems kollektiver Sicherheit erreichen, steuern und erhalten kann. Dazu gehört das Verständnis, dass Resilienz sich nicht nur auf infrastrukturelle Aspekte begrenzt, sondern auch kognitive Bereiche wie Öffentliche Meinung und Demokratieverständnis berührt. Diese Bereiche sind im Rahmen der nationalen Strategien („Integrated National Concept“) zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegen Bedrohungen staatlicher und nichtstaatlicher Natur abzudecken. Die NATO kann die Mitgliedsländer bei der Entwicklung, Umsetzung und Anpassung dieser Strategien beratend unterstützen. Dazu verfügt die Allianz über diverse Zentren mit Expertise („Centres of Excellence“) und Partnerschaften mit anderen supranationalen Organisationen, wie den UNUnited Nations und der EUEuropäische Union. Dabei steht jederzeit die systemische Stabilität im Austauschverhältnis zwischen der NATO und den Mitgliedern: politisch stabilen Ländern wollen und können sicherheitspolitisch mitgestalten und eine Allianz, die es versteht, Antworten auf die Sicherheitsbedürfnisse der Staaten sowie Bedrohungen zu finden, kann sich somit durch Anpassung selbst stabilisieren. Dies erfordert die Bereitschaft, selbstkritisch zu sein und Entscheidungen auch in Krisen zu treffen. Militärische Kapazitäten bilden dabei gewiss eine gewichtige Rolle, sind jedoch nur ein Faktor um stabiles System kollektiver Sicherheit zu erhalten.