Unbekannte Kameraden – Die Serie: Sascha Tiedemann
Unbekannte Kameraden – Die Serie: Sascha Tiedemann
- Datum:
- Ort:
- Schleswig-Holstein
- Lesedauer:
- 5 MIN
„Ost und West? Das Thema hat sich auf der Zeitachse wirklich erledigt“
„Macht mal den Fernseher an, da passiert gerade etwas.“ An jenen diesigen norddeutschen Spätherbsttag 1989 kann sich Sascha Tiedemann vielleicht auch deshalb so gut erinnern, weil an diesem 9. November gleich zwei Dinge passierten, die für einen Fünfjährigen außergewöhnlich waren.
„Macht mal den Fernseher an, da passiert gerade etwas.“ An jenen diesigen norddeutschen Spätherbsttag 1989 kann sich Sascha Tiedemann vielleicht auch deshalb so gut erinnern, weil an diesem 9. November gleich zwei Dinge passierten, die für einen Fünfjährigen außergewöhnlich waren. Nicht nur, dass sich die Familie den Geburtstagskuchen der an diesem Tag feiernden Mutter schmecken ließ. Sondern auch, weil das Großereignis in Berlin seine Wirkung auch im Marschland westlich von Hamburg entfaltete.
Umgeben von Auen, hanseatischem Fachwerk und schwarz-weißen Milchkühen ist Major Sascha Tiedemann (35) hier in Buxtehude, einem 40.000 Einwohner zählenden Städtchen westlich von Hamburg, groß geworden. Hier ist er zur Schule gegangen. Hier verbrachte er seine Jugend und hier zwischen Weser und Elbe, 60 Kilometer von der mecklenburgischen Landesgrenze entfernt, war das Ost-West-Thema in den 90er Jahren vermutlich weniger zu spüren.
Dass diese Vermutung trügt, klärt sich an diesem Dienstagabend, dem 14. Juli 2020. Sascha Tiedemann hat sich zu einem Online-Videointerview bereiterklärt, um über seine Erinnerungen an die Wende, die Zeit seines Aufwachsens und seinen Weg zur Bundeswehr zu sprechen.
Der Sandkastenkumpel aus Gotha
Natürlich erlebte auch der junge Sascha – und mit ihm das westdeutsche Buxtehude – seine Begegnungen mit den Menschen aus den neuen Bundesländern. Im Kindergarten traf er auf seinen bis heute besten „Kumpel“. Der kam mit Familie ‚rüber‘, die, wie viele andere auch unmittelbar nach der Wende das eigene Glück in Niedersachsen suchten. Von den Erwachsenen erzählt er, sei mal eine Bemerkung gekommen: „Die sind doch aus dem Osten.“ Ihm als Kind war es egal, wo der Spielgefährte herkam und, dass „die irgendwie anders redeten“, störte ihn auch nicht. Die Kindergartenfreundschaft hat bis heute gehalten.
Tiedemann hat sich auf das Gespräch vorbereitet. Verabredet war, dass er frei sprechen möge über seine Biografie, was er für wichtig hält, über Mentalitäten, ob es heute noch Unterschiede gibt zwischen Ost und West. Und: Welche Rolle die Innere Führung als Integrationsfaktor damals und heute in der Bundeswehr spielt.
„Ticken die anders?“
2005 meldet sich der damals 19 Jahre alte Abiturient als Offizieranwärter bei der Bundeswehr. Inspiriert „ganz besonders durch meinen Großvater, der als Oberstabsfeldwebel und Berufssoldat von 1956 bis 1989, also richtig im Kalten Krieg dabei gewesen ist“, tritt er in die militärischen Fußstapfen seiner Familie. Es geht zur Heeresflugabwehrtruppe. Das baden-württembergische Hardheim ist seine erste Station außerhalb des Elternhauses. „Das war als Norddeutscher erstmal ein Schock, weil man für längere Zeit aus der Heimat wegmusste.“ Zum damaligen Einzugsgebiet des Bataillons zählen besonders Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg, berichtet er. „Natürlich war für mich klar: Die reden anders, habe ich vorher schon gewusst. Ticken die anders? Wahrscheinlich eher nicht. Diese Unterschiede haben sich ganz schnell in Luft aufgelöst. Natürlich war es so, dass kleinere Grüppchen, beispielsweise die aus Magdeburg, erst mal aufeinanderhingen. Wenn man irgendwo hinkommt, guckt man erstmal. Die besten Kameraden, die ich hatte, sind aus den neuen Bundesländern. Wir haben uns gegenseitig besucht, waren auf Hochzeiten und im Studium.“ Nennenswerte Unterschiede in Mentalität und Verhalten, die mit der Herkunft aus dem Osten oder dem Westen Deutschlands zu tun haben, erlebt Tiedemann in seinen Anfängen bei der Bundeswehr, immerhin dann schon 16 Jahre nach dem Fall der Mauer, nicht mehr. Vorstellen kann er sich allerdings, dass das für die Kameraden 1990 eine andere Situation war. „Der westdeutsche Soldat, der auf einmal seine Stube mit einem ehemaligen NVANationale Volksarmee-Kameraden teilen sollte. Das war sicherlich nicht immer einfach. Die mussten sich ja auch irgendwo alle finden.“
Sieben Jahre Menschen führen
Menschen zu führen ist Tiedemanns Antrieb und vielleicht der Grund, weshalb es ihn nach einem Studium der Politikwissenschaften auf eigenen Wunsch zu den Fallschirmjägern zieht. 2018 geht er bereits als Kompaniechef mit dem – spätestens seit den Karfreitagsgefechten 2010 bekannten – Seedorfer Fallschirmjägern – in seinen ersten Auslandseinsatz. Er ist dort, wo vorne ist. Wo geführt wird und Fehler tödlich sein können. Dort, wo er sich auf seine Frauen und Männer verlassen können muss.
Mit Schocks umgehen lernen
Was sind für ihn Schlüsselfaktoren, um gut zu führen? Ein Wort fällt auf, wenn man ihm zuhört. Tiedemann spricht von „Schocks“. Den kleineren und den größeren Schocks. Er betont dieses Wort immer wieder. Was er damit meint, ist der Schock der Veränderung, der Auseinandersetzung mit dem Neuen, der junge Menschen überfällt, wenn sie zur Bundeswehr kommen. Er verrät, dass er mit seinen Gruppen- und Zugführern viel über die Frage gesprochen hat, wie man den jungen Menschen heute helfen kann, diese Schocks zu überwinden, „Man weiß ja um die Unterschiede“. Man müsse sich mit den jungen Soldatinnen und Soldaten auseinandersetzen. „Was beschäftigt die eigentlich?“ Da denkt der 35-jährige auch daran, dass die Jahrgänge 1998 aufwärts eben schon wieder anders „ticken“, als er, geboren 1985.
„Das schafft ihr nur gemeinsam!“
„Die Vermittlung der soldatischen Werte und vor allem auch der Kameradschaft. Das sind meines Erachtens nach die wichtigen Säulen, um diese Schocks zu bekämpfen. Gemeinsam! Und das den Soldaten immer wieder klar zu machen: Das schafft ihr nur gemeinsam. Das schafft ihr mit eurem Gruppenführer zusammen, mit eurem Zugführer zusammen und auch mit eurem Kompaniechef zusammen. Dieses Band der Kameradschaft ist das Elementare, das jeder Soldat erleben und auch genauso spüren sollte. Das muss man vorleben, das muss man erleben. Das ist, glaube ich, der integrative Hauptfaktor, gerade in der ersten Zeit, wenn man sich auf einmal in einer ganz anderen Welt befindet.“
„Auch, wenn es mal wehtut“
Tiedemann gewährt einen tiefen Einblick in den Baukasten seiner Führungskompetenzen. Man kann spüren, wie wichtig ihm ist, worüber er spricht. Weil es überlebenswichtig ist. Er will die jungen Menschen erreichen, zu ihnen durchdringen, Vorbild sein für das, worauf es ankommt.
Ob die Menschen „aus Norden oder Süden kommen“ ist aus seiner Sicht heute egal. Die Bundeswehr sei heute „sehr integrativ. […] Wir haben eine ganz offene Diskussion über Genderfragen und über andere Religionen. Es ist natürlich Aufgabe der Vorgesetzten das vorzuleben und auch zu vermitteln. Das Band der Kameradschaft ist das Elementare, das jeder Soldat erleben und auch genauso spüren sollte. Das muss man vorleben! Mit der Zielgruppenanalyse und dem notwendigen Fingerspitzengefühl, der notwendigen Fürsorge, Methodik und Didaktik muss es das Ziel sein eben diese jungen Kameradinnen und Kameraden, die eben einer anderen Generation angehören, die vielleicht sozialisiert werden müssen in einigen Bereichen, aber gute Anlagen haben dazu auch zu bringen, weiterzumachen. Auch wenn es mal wehtut.“