Unbekannte Kameraden – Die Serie: Oberstabsfeldwebel Thomas Richter

Unbekannte Kameraden – Die Serie: Oberstabsfeldwebel Thomas Richter

Datum:
Ort:
Bad Frankenhausen
Lesedauer:
7 MIN

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„Zusammenwachsen ist das, was am besten funktioniert.“

Gestrandete VW-Bullis, Raufereien und Zusammenwachsen. Als Spieß des 4. Kompanie des Panzerbataillons 393 in Bad Frankenhausen hat der gebürtige Thüringer ungewöhnliche Geschichten erlebt. Aus einem Interview am 24. Juli 2020.

Norbert Bisky, „Niemandsland“, 2019, Öl auf Leinwand, 240 x 260 cm

Norbert Bisky, „Niemandsland“, 2019, Öl auf Leinwand, 240 x 260 cm
Courtesy: the artist & KÖNIG Galerie Berlin/London/Tokio

Norbert Bisky/VG Bild-Kunst, Bonn 2020

Neutrale KfzKraftfahrzeug-Werkstätten zeichnet für gewöhnlich aus, dass sie – von moderner Fahrelektronik einmal abgesehen – jedes Fahrzeug reparieren, das man vorbeibringt. In den Händen ihres Bedieners ist es der 19er ‚Nuss‘ schlichtweg egal, ob sie eine Schraube an einem VW-Bulli oder an einem Trabant lösen soll.

Angenommen, dem Besitzer einer Werkstatt fiele durch eine glückliche Fügung – zum Beispiel durch die Übernahme der Werkstatt eines Konkurrenten – intaktes Werkzeug in die Hände, ist kaum anzunehmen, dass er auf die Idee käme, es wegzuschmeißen.

Dieser Überzeugung war auch Thomas Richter. Solange zumindest bis ihm, dem gelernten Instandsetzungsfeldwebel der NVANationale Volksarmee, im Sommer 1990 eine sonderbare Geschichte widerfuhr, die ihn auch bald 30 Jahre später noch spitzbübisch grinsen lässt. Es ist ein sonniger Augusttag. Zusammen mit seinen Schrauber-Kameraden sitzt Richter, damals 24 Jahre alt und Oberfeldwebel, im Schatten eines Schleppdachs in der Otto-Brosowski-Kaserne von Weißenfels. Neun Monate sind seit dem Mauerfall vergangen. Ruhig ist es geworden zwischen den Unterkunftsbarracken und Instandsetzungshallen. Es gibt nichts mehr zu tun, seit das gesamte Staatssystem der DDR dem Ende geweiht, die Armee über Nacht in einen komatösen Schwebezustand übergegangen ist.

„Warten, was auf mich zukommt“

Dem hektischen Treiben der Alarmierungen in den späten 80er Jahren folgen für die Instandsetzer der motorisierten Schützendivision 18 „Otto-Schlag“ in diesem Sommer 1990 Nachmittage, an denen nichts weiter zu tun ist, als in der Sonne zu sitzen und die Zeit totzuschlagen.

Es sind Tage, an denen Männer wie Richter nicht einmal wissen, ob die Kameraden am nächsten Tag überhaupt noch zum Dienst kommen, oder ob sie sich, wie so viele, über die Grenze davonmachen. Eine unangenehme Zeit. Sorgen und Zukunftsfragen rumoren in den Köpfen der Gebliebenen. Junge Familienväter, wie Richter, dessen Erstgeborener damals gerade ein Jahr auf der Welt ist, stellen sich Fragen, wie es für sie weitergeht. Ob sie einen Platz in der neuen Bundeswehr finden und ob sie das überhaupt wollen. Richter selbst hat Verwandte in Hamburg und München. Ein Cousin ermutigte ihn damals, den Schritt nach Bayern zu wagen: „Ich würde dann eine schöne Wohnung kriegen und eine Ausbildung zum KfzKraftfahrzeug-Mechaniker machen“, erzählt er. Richter entscheidet sich für seine Thüringer Heimat und darauf, „zu warten, was auf mich zukommt.“

Weg mit dem „Russenwerkzeug“?

So wird er an diesem Nachmittag Zeuge, wie die Ruhe unter dem Schleppdach der Instandsetzer von dem rummeligen Röhren eines sich nähernden Fahrzeugs gestört wird. Ein VW-Bulli, vielleicht das erste westdeutsche Fahrzeug, das bis dato jemals über die Waschbetonplatten heranrollt, kommt vor den verdutzenden Schraubern zum Stehen. Drei Bundeswehrsoldaten steigen aus dem havarierten Fahrzeug mit den Worten: „Könnt ihr was für uns tun?“ aus.

Sie konnten. Weil sie jenen Menschenverstand und Weitblick besaßen, den ihr erster Kommandeur offensichtlich vermissen ließ, als er ihnen befahl, „wir sollen alles Russenwerkzeug wegschmeißen. Die Kameraden aus dem Westen bringen alles mit.“

Der Anekdote, die Richter nun erzählt, wohnt ein bisschen Genugtuung und vielleicht etwas Schadenfreude bei, die er damals wohl empfand: ‚Na, Jungs, habt Ihr denn Werkzeug dabei?‘ ‚Nein, wieso Werkzeug?‘ Und wir: ‚Naja, der Westen bringt doch alles mit. Jungs, da drüben ist ein Kaufland oder eine Kaufhalle, trinkt mal einen Kaffee. Und dann kriegen wir das schon hin.‘ Die Jungs sind raus, haben einen Kaffee geholt und wir haben dann in der Zwischenzeit den Bulli repariert.“ Es war Richters erste Begegnung mit den Kameraden aus dem Westen. Eine herzliche, ehrliche, kameradschaftliche. Eine, die das Verhältnis zwischen den Menschen, die plötzlich dieselbe Uniform trugen, entspannte.

Der junge Thomas Richter auf seinem ersten Truppenausweisbild.

„Von daher waren die Kameraden im Westen nicht so ängstlich, wie wir im Osten.“

Lars Fischer/NVA

Ostausbilder im gemischten Aufbaukommando

Oberstabsfeldwebel Richter sitzt der Schalk im Nacken. Man wird unvermittelt in den Bann seiner Erinnerungen gezogen, wenn man ihm in seiner humorigen Art des Erzählens zuhört. Seine Geschichte aus dem Damals beinhaltet unterschwellig auch Härten und Herausforderungen eines steinigen Anfangs in der Bundeswehr, in die er als einer der wenigen Portepee-Unteroffiziere 1992 übernommen und in der er drei Jahre später Berufssoldat wird.

Der gebürtige Thüringer hat den Aufbau der Bundeswehr im Freistaat von den Anfängen bis heute miterlebt. 1995 war er als einziger Ostausbilder Teil eines gemischten Aufbaukommandos. „Wir haben dann in Bad Frankenhausen mit ganz wenigen Leuten eine Kompanie aufgebaut und die ersten Unteroffizierlehrgänge durchgeführt. Das war schon hochspannend.“

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Transkription des Videos

„Ein Stück weit bodenständiger und leichter führbar“

Unterschiede in der Mentalität zwischen Ost und West? Oberstabsfeldwebel Richter überlegt „Vielleicht sind wir im Osten ein Stück weit bodenständiger und leichter führbar, weil wir im Osten so eingeengt worden sind. Die Westkameraden hatten schon immer ihre Freiheiten“, seien „etwas offener, nicht so ängstlich“ gewesen. Die Führungskultur wie sie die Bundeswehr mit der Inneren Führung auch in den neuen Ländern etabliert hat, findet er gut: Mitspracherecht, Gleichstellungsrecht, die Beteiligungsrechte seien wichtig. „Dass Soldaten sich trauen etwas zu sagen, mitzureden.“

Oberstabsfeldwebel Thomas Richter, Kompaniefeldwebel vor dem Gebäude des Panzerbataillon 393.

„Ich wollte eigentlich nie weg aus dem Osten. Ich fühle mich hier wohl, ich bin hier geboren und groß geworden.“ Oberstabsfeldwebel Thomas Richter, Kompaniefeldwebel im Panzerbataillon 393.

Bundeswehr/Thomas Richter

Richter hat ein- und zurückstecken müssen und das getan, „weil er immer schon gerne Soldat“ war. Die ungleiche Bezahlung zwischen Ost und West, die die Männer seines Jahrgangs hinnehmen mussten. „Man hat ja nicht immer nur die Besten in den Osten geschickt. Viele sind natürlich rübergekommen wegen des Geldes.“ Chefs gab es, die eine „Buschzulage“ kassierten, dienstags kamen und donnerstags wieder heimfuhren, während er in seinen Teams als Teil des gemischten Aufbaukommandos teilweise dauerhaft 24 Stunden im Dienst war. Er war die ganze Woche am Standort, nach Hause fahren kam nicht infrage. „Nachts raus, sich selber weiterbilden, und tagsüber ausbilden, das war schon die Herausforderung.“

Zusammenhalt und Kameradschaft

Er skizziert Lagen, die nichts mit der Menschenführung zu tun haben, wie sie die Innere Führung heute fordert. Es gab Streit, sogar zu kleineren Raufereien im Unteroffizierkorps sei es gekommen. Trotzdem „war der Zusammenhalt gut. Wir haben alle hier in der Kaserne zusammen geschlafen, haben uns jeden Abend zusammengehockt, zusammengerauft, haben Dinge besprochen. Haben gestritten, haben ein Bier getrunken. Ost und West ist so zusammengewachsen, auch wenn das manchmal holprig war. Im Großen und Ganzen war das schon ein super Haufen. Aber es war eine hochinteressante Zeit.“

Mit Menschen zu arbeiten, „Zusammenhalt und Kameradschaft“ sind Aspekte, die ihn damals wie heute für die Bundeswehr begeistern. 1995 wird er KfzKraftfahrzeug-Gruppenführer im Panzerbataillon 393. Es wird sein Heimatverband, in dem er Zugführer, Kompanietruppführer und 2015 sogar Spieß wird. Er erreicht den höchsten Dienstgrad seiner Laufbahn und wird das Bataillon bis heute nicht mehr verlassen. „Tolle Kameraden“ hat er hier kennengelernt. „Feldwebel, Offiziere, einschneidende Kommandeure.“

Hacken zusammen und drauflos

Richter beschreibt in seinen Erinnerungen Härten, von denen man hinterfragen muss, ob sie junge Menschen noch ertragen und durchstehen können und wollen. Und wenn sie es können, wie man es schafft, dass sie es wollen. Er spricht das nicht aus und doch mag man einen leicht sarkastischen Zug in seinen Mundwinkeln entdecken, wenn er sagt „Heute bildet man sich ja während des Dienstes weiter. Früher hat man das alles nach Dienst gemacht.“

Oberstabsfeldwebel Richter in einem Zeitzeugeninterview im Juli 2020.

„Wir erfüllen den Auftrag und kameradschaftlich habe ich nicht den Eindruck, dass wir die Integration verpasst hätten.“ Oberstabsfeldwebel Richter in einem Zeitzeugeninterview im Juli 2020.

Bundeswehr/Rohde

Väterliche Geduld und Gemütsruhe sind Charaktereigenschaften, die er ausstrahlt. Schlüssel, die es braucht, um den „Laden“ heute zusammenzuhalten, Sinn für Gemeinschaft zu schaffen? Ist das seine Art Führung zu leben und die dabei hilft, dass junge Menschen ihm als Führer des Unteroffizierkorps vertrauen? Einfacher sei es heute jedenfalls nicht geworden, das Führen: „Überhaupt das Bewusstsein herzustellen. Das ist ein Korps, wir gehören zusammen. Gemeinschaftlich Dinge zu tun, auch mal nach Dienst oder am Wochenende.“ Das, was jahrzehntelang selbstverständlich war, ginge verloren, wenn man nicht viel investiere. Er kenne Spieße „da funktioniert das überhaupt nicht mehr.“ Es werde viel hinterfragt. „Warum, weshalb, weswegen?“ Das war vor zwanzig Jahren nicht so. Da galt es: Hacken zusammen und dann wurde drauflos marschiert.“ Ein Generationenproblem? „Ich denke schon, ja. Den Kindern geht’s heute, ich will nicht sagen zu gut, aber sehr gut. Man muss sich keine Sorgen mehr machen. „Die persönliche Entscheidung zu dienen, ist heute vielleicht nicht mehr so sehr die des Herzens sondern des Geldbeutels.“ Erschwerend komme die neue Arbeitszeitlinie hinzu. Schwierig sei es, Menschen zu gewinnen, die in der Zeit von 07.30-16.30Uhr Dienst verrichten wollten. Man wisse ja, wie schnell ein Tag vorbei sei. Seine Soldatinnen und Soldaten bringen alle Familie mit, erzählt er. Nie zuvor habe die Freizeit auch in der Bundeswehr einen solchen Stellenwert erreicht wie heute. Parallel werden die „Aufträge nicht weniger, und die Männer und Frauen nicht mehr.“

Richter kann noch lachen

Oberstabsfeldwebel Thomas Richter kann aber noch lachen. 30 Dienstjahre nach der Wiedervereinigung, die Spießkordel und das Wappen des Panzerbataillons 393 am rechten Oberarm. Wie er damals lachen konnte, als es im Zuge der Integration in die Bundeswehr auch manches Unangenehme zu ertragen und manchen Stolperstein zu überwinden galt. Richter war da, wenn er gebraucht wurde und er ist heute da, weil Führungskräfte wie er einfach stets gebraucht werden. Um Gemeinschaft herzustellen, Innere Führung zu leben. Denn „Zusammenwachsen ist das, was in einer Armee am besten funktioniert“.

von Wilke Rohde

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