„Ukrainer diktieren das Geschehen auf dem Gefechtsfeld“
„Ukrainer diktieren das Geschehen auf dem Gefechtsfeld“
- Datum:
- Ort:
- Berlin
- Lesedauer:
- 4 MIN
Die Streitkräfte der Ukraine sind angetreten, um sich die von Russland besetzten Landesteile zurückzuholen. Erste Geländegewinne wurden erzielt – auch wenn es nur langsam voran geht. Oberst i. G. Jörg Tölke beobachtet die aktuellen Entwicklungen für das Verteidigungsministerium – und teilt sein Lagebild mit der „Nachgefragt“-Community.
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Die Offensivoperationen der ukrainischen Streitkräfte seien bereits am 4. Juni angelaufen, so Oberst i. G. Jörg Tölke im Gespräch mit „Nachgefragt“-Moderator, Hauptmann Hannes Lembke. Eingesetzt würden mindestens drei gepanzerte Kampfverbände mit je drei- bis viertausend Soldatinnen und Soldaten, Schützenpanzern, Kampfpanzern und weiterem Großgerät. „Wir haben gesehen, dass ukrainische Verbände insbesondere im Süden auf zwei Angriffsachsen angetreten sind“, so der neue Leiter des Referates für Bedrohungsanalysen im Verteidigungsministerium. „Es haben sich heftige Kampfhandlungen entwickelt. Ungeachtet dessen haben ukrainische Kräfte Raumgewinne erzielt.“
Krim soll offenbar vom Nachschub abgeschnitten werden
Vermutliche Absicht der ukrainischen Führung sei es, die russischen Stellungen zu durchbrechen und bis ans Asowsche Meer durchzustoßen, so der Oberst. Die Landbrücke zwischen der von Russland besetzten Halbinsel Krim und dem russischen Kernland solle durchtrennt werden. „Durch diese Landbrücke führen die Eisenbahnlinien und Straßen. Wenn man diese lebenswichtigen Adern für die russischen Streitkräfte durchtrennt, hätte das einen erheblichen Einschnitt für die russische Gefechtsführung in den besetzten Gebieten zur Folge.“
Auch um Bachmut im Donbass werde weitergekämpft, so der Heeresoffizier. Söldner der Wagner-Gruppe hatten die Stadt für Russland erobert und waren dann von regulären Truppen Russlands abgelöst worden. „Diesen Moment der Ablösung in den Stellungen haben die ukrainischen Kräfte genutzt, weil es immer ein Schwächemoment auch ist.“ Allerdings lasse Bachmuts Bedeutung als „Hotspot der Gefechtshandlungen“ nach, so der Oberst – auch wegen der Angriffsoperationen im Süden des Landes.
Russland setzt auf Abnutzung des ukrainischen Angriffes
„Was wir sehen werden ist, dass auf den verschiedenen Angriffsachsen – bei Saporishshja westlich von Donezk und im Raum Bachmut – die Kräfte sich langsam vorarbeiten werden, Sperren öffnen werden, um dann mit gepanzerten Kampftruppen nachzurücken.“ Orts- und Häuserkämpfe in den zurückeroberten Gebieten seien zu erwarten – eine schnelle Entscheidung hingegen nicht. Denn Russland habe entlang des gesamten Frontverlaufes Verteidigungsstellungen ausgebaut. „Das heißt, sie haben in größerer Tiefe Sperren angelegt, Stellungssysteme angelegt und sich mit Munitionsvorstationierungen auf den potenziellen Angriff der Ukrainer vorbereitet.“
Dieses alles würde gemäß der Doktrin der russischen Streitkräfte zur raumorientierten Verteidigung genutzt, so Tölke. „Das heißt, sie sitzen nicht in ihren Stellungen, schießen und lassen sich dann überrollen.“ Stattdessen werde versucht, die Spitzen des ukrainischen Angriffes in eigens vorbereitete Räume zu lenken, um sie dort zu bekämpfen. „Die großen, weiträumigen Angriffe von gepanzerten Kräften werden wir nicht sehen.“ Russland werde alles daransetzen, den Vorstoß abzufangen und die ukrainischen Kräfte zu zerschlagen.
Ukraine wieder in der Initiative
Allerdings hätten die ukrainischen Streitkräfte in diesem Krieg schon mehrfach gezeigt – beispielsweise beim Kampf um Charkiw und bei der Rückeroberung Chersons –, dass sie auch gegen einen überlegenen Feind Geländegewinne erzielen und behaupten könnten. „Den ersten Meilenstein haben die Ukrainer schon dadurch erreicht, dass sie die Initiative ergriffen haben,“ so Tölke. Viele Monate hätten die ukrainischen Streitkräfte ausschließlich auf Russland reagieren können. „Seit Anfang Juni sind sie nun in der Offensive und diktieren das Geschehen auf dem Gefechtsfeld. Aus meiner Sicht ist das allein schon ein Erfolg, der sich durchaus sehen lassen kann.“
Ende des Krieges nicht in Sicht
Am Ende gehe es darum, durch militärische Erfolge eine politische Beilegung des Konflikts vorzubereiten, so der Oberst. Die Durchhaltefähigkeit Russlands sei aber nicht zu unterschätzen – Menschen und Material seien reichlich vorhanden. „Insofern gehen wir davon aus, dass insbesondere die russische, aber auch die ukrainische Seite in 2023 und auch in den Folgejahren sicherlich die Gefechte in der Ukraine, so wie sie sich derzeit auf diesem Niveau darstellen, weiterführen können.“
Allerdings würden die konventionellen Landstreitkräfte Russlands durch die Kämpfe erheblich geschwächt. Nach einem möglichen Ende des Ukrainekrieges werde es lange dauern, bis die russischen Streitkräfte wieder das Niveau vor Kriegsbeginn erreicht hätten, so Oberst Tölke.