Ein Dienstag im September

Ein Dienstag im September

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Für manche Menschen sind sie Erinnerungen, die sich für immer ins Gedächtnis gebrannt haben, für andere historische Ereignisse aus Büchern und TV-Dokumentationen – die Terroranschläge vom 11. September 2001. Heute jährt sich Nine Eleven zum zwanzigsten Mal. Wir von Radio Andernach erinnern uns an diesen fatalen Spätsommertag, der die Welt veränderte.

Tribute in Light

Tribute in Light

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Das Telefongespräch, das Betty Ong am Morgen des 11. September 2001 führt, wird in die Geschichte eingehen. Die 45-jährige Flugbegleiterin befindet sich an Bord des Flugs 11 der American Airlines von Boston nach Los Angeles. Ong hat den Dienst freiwillig übernommen. Eigentlich will sie im Anschluss an den Flug von Los Angeles aus nach Hawaii reisen, wo sie mit ihrer Schwester Urlaub geplant hatte. Es sollte anders kommen.

Um 8:19 Uhr Ortszeit wählt Ong über ein internes Bordtelefon die Nummer der Reservierungszentrale von American Airlines in Raleigh, North Carolina. Betty Ong informiert die Mitarbeiterin am Telefon darüber, dass die Maschine entführt worden sei. Mehrere Männer haben, bewaffnet mit Teppichmessern und Reizgas, die Kontrolle über das Flugzeug übernommen. Das Cockpit würde nicht mehr antworten, der Weg hinein sei versperrt. Zwei Flugbegleiterinnen und ein Passagier seien bereits niedergestochen worden. Durch Madeline Amy Sweeneys, eine weitere Flugbegleiterin an Bord des Flugzeugs, und Betty Ongs Schilderungen von Sitzplatznummern und Geschehnissen wird es später möglich sein, sowohl die Terroristen als auch die Getöteten zu identifizieren. Daniel Lewin, ein USUnited States-amerikanischer Staatsbürger mit israelischen Wurzeln, Veteran der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte und ehemaliger Special-Forces-Captain des Sajeret Matkal, gilt als das wahrscheinlich erste Todesopfer der Terroranschläge. Trotz seiner militärischen Ausbildung kann Lewin die Entführung nicht verhindern, da ihm die Terroristen, so die heutige Einschätzung, sehr wahrscheinlich zur Abschreckung der anderen Passagiere von hinten die Kehle durchschnitten, bevor sie das Flugzeug unter Kontrolle brachten. Die Flugbegleiterinnen Karen Martin und Barbara Arestegui starben kurz darauf, mutmaßlich bei dem Versuch der Terroristen, ins Cockpit zu gelangen.

Um 8:21, zwei Minuten, nachdem Betty Ongs Anruf bei American Airlines begonnen hat, wird der Transponder an Bord von Flug 11 abgeschaltet. Die Luftraumüberwachung kann die Route der Boing 767 nicht mehr verfolgen. Um 8:24 und 8:33 meldet sich einer der Entführer bei der Flugkontrolle des Boston Airports und sorgt für Gewissheit bei den Behörden – American Airlines 11 wurde entführt. Um 8:37 wird die Boing 767 noch einmal von einem anderen Passagierflugzeug gesichtet. Flug 11 folgt dem Lauf des Hudson Rivers in Richtung New York City.

Während der ganzen Ereignisse bleibt Betty Ong am Telefon. Für die Informationen, die sie in diesen fünfundzwanzig Minuten weitergibt, wird sie später von der 9/11 Commission der USUnited States-amerikanischen Regierung als Heldin geehrt. Es ist 8:46 Uhr, als das Gespräch zwischen Betty Ong und American Airlines unvermittelt abreißt. Lower Manhattan wird von einem lauten Knall erschüttert. Die Attacken haben begonnen.

Das Fundament des Hasses

Neunzehn Terroristen – fünfzehn davon saudi-arabische Staatsangehörige, zwei aus den Vereinigten Arabischen Emiraten, jeweils einer aus dem Libanon und Ägypten – werden an diesem Septembermorgen durch vier koordinierte und von langer Hand geplante Flugzeugentführungen den fatalsten Terroranschlag herbeiführen, den die westliche Welt je gesehen hat. Ihre Namen werden an dieser Stelle nicht genannt. Sie sind bekannt, aber zwanzig Jahre nach dem von ihnen verübten Massenmord, soll nicht an sie erinnert werden, sondern an die fast dreitausend Menschen, die durch diesen feigen Anschlag ihr Leben verloren.

Nur so viel sei über die Terroristen gesagt: Sie entsprachen nicht dem Klischee des ungebildeten Dschihadisten, sondern waren im Gros gut ausgebildete, teils studierte und in ihren Wohnorten integrierte Männer. Alle waren Teil des radikal-islamischen Terrornetzwerks Al-Qaida, das 1988 im Zuge des Russisch-Afghanischen Krieges unter anderem vom saudischen Dschihadisten Osama bin Laden aufgebaut wurde und das für zahlreiche Terroranschläge in mehreren Ländern bis in die heutige Zeit verantwortlich ist. In den Jahren um den Jahrtausendwechsel war Al-Qaida vor allem für die Anschläge auf das World Trade Center in New York 1993 oder die Bombenanschläge auf die amerikanischen Botschaften in Kenia und Tansania 1998 bekannt. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt begann, initiiert und geplant von Osama bin Laden,  Chalid Scheich Mohammed und Mohammed Atef, die Planung für den Terrorangriff, der alle vorangegangenen weit in den Schatten stellen sollte.

Die Waffen für diesen Terrorakt: vier Passagiermaschinen. Die Flüge United Airlines 93 und 175 sowie American Airlines 77 und 11.

Ein klarer Himmel

In der Sekunde, als das Gespräch zwischen der Flugbegleiterin Betty Ong und American Airlines unterbrochen wird, zerreißt eine Explosion den wolkenlosen Morgen in New York City. Die Terroristen an Bord von Flug American Airlines 11 haben die Boing 767 genau auf den Nordturm des World Trade Centers zugesteuert, in den die Maschine zwischen der 93 und 99 Etage mit fast 750 km/h einschlägt. Betty Ong sowie 91 weitere Passagiere, Besatzungsmitglieder und die fünf Terroristen sterben auf der Stelle. 1344 Menschen an und oberhalb der Einschlagstelle im Nordturm sind entweder tot oder durch das Flammeninferno und die zerstörten Fluchtwege im Hochhaus ohne Hoffnung auf Rettung gefangen. Trümmerteile regnen auf die Straßenzüge, Papierfetzen aus den völlig zerstörten Büros werden bis an den East River geweht. Der 417 Meter hohe Turm steht in Flammen. Eine dichte Rauchwolke weht über Lower Manhattan.

Hunderte Feuerwehrleute des New York Fire Department (NYFD), Polizisten des New York Police Department (NYPD) und der Port Authority eilen ans World Trade Center. Die Lage ist unübersichtlich. Noch ist völlig unklar, ob es sich um einen Unfall oder Anschlag handelt. Die Rettungskräfte sammeln sich in der Lobby des Nordturms, panische Menschen strömen über die Treppenhäuser in die vermeintliche Sicherheit. Es gibt unzählige Schwerverletzte. Oberste Priorität für die Einsatzkräfte: Das Retten von Menschenleben und, wenn möglich, Brandbekämpfung. Aufgrund ausgefallener Aufzüge müssen die Feuerwehrleute mit ihrer teilweise über zwanzig Kilo schweren Ausrüstung die Treppe zu der Einschlagsstelle nehmen. Ob man den Menschen oberhalb dieses Punktes noch helfen kann, ist vollkommen unklar. In ihrer Panik springen Menschen, gefangen oberhalb des 93. Stockwerks, aus den Fenstern in den sicheren Tod. Andere klammern in sich in Schwindel erregender Höhe an die Außenfassade, um dem tödlichen Qualm im Inneren des Turmes zu entgehen. Manche schwenken Tischdecken, Hemden oder Tücher, um nicht übersehen zu werden. Hubschrauber der Polizei, die das World Trade Center umkreisen, müssen hilflos mit ansehen, wie viele von ihnen fallen. Durch die starke Rauchentwicklung ist an eine Rettung aus der Luft nicht zu denken. Geschätzte einhundert bis zweihundert Menschen stürzen, ob gefallen oder gesprungen, auf diese Weise in den Tod. Feuerwehrleute, die sich zu diesem Zeitpunkt in der Lobby des Nordturms befinden, werden später erzählen, dass sie noch nie in ihrem Leben ein solches Geräusch gehört haben, wie jenes, als die Körper auf dem Boden aufschlugen.

Zwei Minuten nach dem Angriff beginnt mit dem TV-Sender WMYW die Berichterstattung der Medien, die sich im Laufe des Tages zur weltweiten Live-Dokumentation einer Katastrophe unvergleichlichen Ausmaßes ausweiten wird. Der damals amtierende USUnited States-Präsident George W. Bush erfährt von den Vorgängen in New York während eines Besuchs in einer Grundschule in Sarasota, Florida. Noch immer ist völlig unklar, ob es sich um einen Unfall oder Anschlag handelt. Derweil ordnet das  NYFD vom provisorischen Lagezentrum in der Lobby des Nordturms die Evakuierung der Zwillingstürme des World Trade Centers an.

Um 9:03, nur eine Minute nach dem Evakuierungsbefehl und siebzehn Minuten nachdem American Airlines 11 den Nordturm getroffen hat, dröhnen Triebwerksgeräusche über den Dächern der Hochhäuser von Manhattan. Die Terroristen an Bord von United Airlines 175 lenken das Flugzeug in den Südturm des World Trade Centers. Die Boing 767, die mit umgerechnet 950 km/h seitlich versetzt in die Südseite des Turms rast, vergeht in einem Feuerball, der live von unzähligen Fernsehanstalten um den Globus, gefilmt wird. Der zweite Anschlag. Die Wucht des Aufschlags ist so gewaltig, dass eines der Flugzeugtriebwerke später sechs Blocks vom World Trade Center entfernt gefunden wird. Spätestens jetzt wird jedem klar: Amerika wird angegriffen.

In den Straßen New Yorks heulen beinahe ununterbrochen die Sirenen der Einsatzfahrzeuge. Es stinkt nach Kerosin. Zwei dichte Rauchsäulen umhüllen die Spitzen der Zwillingstürme. Feuerwehrleute, Polizisten und Rettungskräfte, die sich im Dienstfrei befanden, melden sich freiwillig zum Dienst. Die angeordnete Evakuierung beginnt. Einer der daran beteiligten Feuerwehrleute ist Chief Orio Palmer, ein 45-jähriger Veteran des NYFD, geboren und aufgewachsen in der Bronx. Chief Palmer verabschiedet sich von seinen Kameraden in der Lobby und macht sich mit seinem Trupp auf den Weg zum gerade erst getroffenen Südturm. Es ist das letzte Mal, dass er lebend gesehen wird.

Feuerwehrmann am 09.September 2001

Feuerwehrmann am 09.September 2001

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Ins Herz des amerikanischen Militärs

Während in New York City die Katastrophe ihren Lauf nimmt, bahnt sich am Himmel über Amerika weiteres Unheil an. Zum Zeitpunkt des Anschlags befinden sich noch über 4000 Maschinen in der Luft, die, nach dem Angriff auf den zweiten Turm, alle eine potentielle Waffe in der Hand von Terroristen sein könnten. Gegen 9:33 informiert der Tower des Reagan International Airports in Arlington, Virginia, acht Kilometer vom Stadtzentrum Washington D.C.s entfernt, den Secret Service, dass sich ein Flugzeug ohne auf Funksprüche zu reagieren dem Weißen Haus nähert. Die sofortige Evakuierung des Weißen Hauses und Kapitols wird angeordnet, Vize Präsident Richard Bruce „Dick“ Cheney und andere Mitglieder der Regierung werden in den Bunker unterhalb des Weißes Hauses gebracht. Ein im Gebiet operierendes Transportflugzeug vom Typ C-130 Hercules der Nationalgarde kann Flug 77 verfolgen. Vier Minuten nach der Warnung im Weißen Haus wird der Pilot der Hercules eine riesige Explosion am Boden melden, kurze Zeit später seine Meldung präzisieren. Sie trifft das amerikanische Militär mitten ins Herz. Die Boing 757 von American Airlines 77 ist in die Westseite des Pentagons gekracht. Alle 64 Personen an Bord sowie 125 Mitarbeiter im Verteidigungsministerium werden getötet. Ein Großteil des Kerosins verbrennt nicht beim Aufschlag, sondern verteilt sich im Gebäude und entfacht ein sprichwörtliches Inferno.

In diesem Chaos machen Gerüchte die Runde von Meldungen über weitere Flugzeugentführungen. In dieser kaum zu überblickenden Lage überschlagen sich die Ereignisse und Falschmeldungen von weiteren Anschlägen an anderen Orten. Präsident Bush, mittlerweile an Bord der Air Force One, drängt darauf, nach Washington zurückzukehren, aufgrund der akuten Bedrohungslage wird dies allerdings vorerst abgelehnt.

Um 9:45 entschließt sich die FAA, die Bundesluftfahrtbehörde der Vereinigten Staaten, zu einem drastischen Schritt: Sämtliche Maschinen am Himmel müssen auf dem nächsten Flughafen landen, anfliegende Maschinen dürfen nicht in den USUnited States-Luftraum eindringen. Alle Flugbewegungen kommen zum Erliegen, das Flugverbot gilt im ganzen Land. Ein beispielloser Vorgang. Präsident Bush befiehlt schlussendlich, Passagiermaschinen abzufangen und abzuschießen, wenn sie nicht auf die Befehle zum Landen reagieren. Kampfflugzeuge steigen auf, teilweise aufgrund der dynamischen Situation und des Zeitdrucks unbewaffnet. Im Notfall sollen sie entführte Maschinen zum Landen zwingen – oder rammen. Nach und nach werden alle Flüge auf dem Weg in die USA umgeleitet, die Maschinen im amerikanischen Luftraum gelandet. Ein Flugzeug ignoriert die Anweisung. Flug United Airlines 93.

Während sich Rettungskräfte und Soldaten am Pentagon um die zahlreichen Verletzten kümmern, dringen Berichte durch, die besagen, dass sich Flug 93 auf dem Weg nach Washington befindet. Eine Kampfpilotin der Nationalgarde kreist zu diesem Zeitpunkt in ihrer F-16 über Washington. First Lieutenant Heather Penney hat Befehl, jedes Flugzeug, das in den Luftraum der Hauptstadt eindringen würde, anzugreifen. Unbewaffnet. Mit ihrem Flügelmann hat sie sich verständigt, dass sie das Heck und er das Cockpit des potentiellen Ziels rammen würden. Lieutenant Penney in ihrer unbewaffneten F-16 weiß, dass dieser Auftrag beinhaltet, Menschen zu töten, die sie zu beschützen geschworen hatte. Und durch das riskante Ramm-Manöver mit hoher Wahrscheinlichkeit wohl auch sich selbst.

„Wir werden etwas tun.“

An Bord von United Airlines 93 verlaufen die Dinge nicht, wie von den Entführern geplant. Die Terroristen haben das Flugzeug auf Kurs Richtung Washington gebracht, um es – so nimmt man heute an – in das Kapitol stürzen zu lassen. Doch die Passagiere an Bord von Flug 93 wissen durch Telefongespräche mit Verwandten, Freunden und Behörden längst von den Selbstmordanschlägen in New York und Washington. Als ihnen klar wird, dass die Entführer, trotz anders lautender Aussagen, ebenfalls ein Selbstmordkommando planen, entscheiden sie sich zu handeln. In einem Telefonat mit seiner Ehefrau sagt der Passagier Tom Burnett, sie solle sich keine Sorgen machen, sie würden etwas unternehmen. Angeführt von Tom Burnett, Todd Beamer, Mark Bingham und Jeremy Glick greifen die Passagiere die Entführer an. Spätere Untersuchungen legen nah, dass die Passagiere entweder kurz davor waren, das Cockpit zurückzuerobern, oder die Tür dorthin zu durchbrechen. Im Zuge des aufkommenden Kampfes lassen die Terroristen um 10:03 die Boing 757 unweit des kleinen Ortes Shanksville, Pennsylvania abstürzen. Alle an Bord sterben. Unter den 40 Todesopfern befindet sich auch der 37-jährige Deutsche Christian Adams. Obwohl zuerst angenommen wird, die USUnited States Air Force hätte United 93 zum Absturz gebracht, wird später durch aufgezeichnete Telefonate klar, dass die Passagiere ihr Schicksal in die eigenen Hände nahmen und damit einen weiteren Anschlag mit unzähligen Toten verhinderten. Und sie retteten wahrscheinlich auch Lieutenant Heather Penney und ihrem Flügelmann das Leben. Beide werden später am Tag sicher zurück zu ihren Familien kehren.

Die Türme fallen

Wenige Minuten, bevor United 93 in Pennsylvania abstürzt, kämpft sich in New York Chief Orio Palmer mit einem Kameraden die Treppen des Südturmes des World Trade Centers hoch. Sie erreichen die 78. Etage und melden zwei Brandherde sowie mehrere Tote auf der Etage. Acht Minuten nach diesem Funkspruch, um 9:59, geschieht dann die Katastrophe. Der Südturm bricht in sich zusammen.  Sechsundfünfzig Minuten nach dem Einschlag von Flug 11 geben die durch Feuer und Einschlag geschwächten Stahlträger nach und vernichten das Gebäude bis auf die Grundmauern. Orio Palmer, sein Kamerad und mindestens 600 Menschen, die noch oberhalb der Einschlagsstelle auf Rettung warten, sterben. Die Südspitze Manhattans, Straßenschluchten und Wolkenkratzer, liegen für Minuten unter einer alles verhüllenden Staubwolke. Überlebende sagen später, es hätte sich in der Wolke angefühlt, als hätte man einen heißen Socken im Mund. Man kann kaum atmen. Die Luft ist heiß. Eine gespenstische Stille, keine Schreie. Eine graue, tote Welt der Zerstörung.

Als der Südturm in sich zusammenstürzt, wird es auch in der Lobby des Nordturms, wo die Feuerwehr die Evakuierung koordiniert, pechschwarz. Ein Kaplan des NYFD stirbt dort, von herabstürzenden Trümmerteilen erschlagen. Sein Name ist Mychal Judge. Augenzeugen erinnern sich später daran, dass Judge, während um ihn herum das Unfassbare geschieht, gebetet habe. In diesem Chaos wird der Befehl zum Rückzug der verbliebenen Rettungskräfte im Nordturm gegeben. Bedingt durch Probleme mit dem Funk, kommt der Befehl nur bei wenigen Feuerwehrleuten an. Anschließend versucht man sich außerhalb des Turmes neu zu gruppieren.

Um 10:28 stürzt schließlich auch der Nordturm ein. Überlebende im Gebäude werden später von einem kreischenden Geräusch berichten, als der Turm fiel. Das Bild der Spitze des Nordturms, die in einer schwarzen Rauchwolke versinkt, die von Flammen umhüllte Antenne, die in der Asche verschwindet – alles brennt sich in das kollektive Gedächtnis der Augenzeugen vor Ort und den zahllosen Menschen an den Fernsehern auf der ganzen Welt ein. Eine gewaltige Aschewolke verteilt sich in Lower Manhattan und frisst sich durch Wolkenkratzer und Häuserschluchten. Der Staub erreicht selbst das fast fünf Kilometer entfernte Empire State Building in Midtown Manhattan, dringt in kleinste Ritzen und verwandelt das einstige Herz New Yorks in eine graue, staubige Endzeitwelt. Die Wolke ist so immens, dass sie selbst von einem amerikanischen Astronauten an Bord der Internationalen Raumstation in 400 Kilometern Höhe gesehen wird.

Das World Trade Center ist fort. Die beiden höchsten Gebäude New York Citys sind eingestürzt. Durch den Dunst ziehen apathische Menschen, über und über mit Staub bedeckt, manche verletzt, andere mit dem nackten Leben davongekommen. Der hochgiftige Staub ist überall. Bis heute leiden mehrere tausend Menschen an gesundheitlichen Folgeschäden dieser Staubwolke, tausende erliegen im Laufe der Jahre seit 2001 verschiedener Krankheiten, die im direkten Zusammenhang mit dem Kollaps der Zwillingstürme stehen.

Überreste World Trade Center

Überreste des World Trade Center

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Als sich der Staub legte

In New York sind seit dem Einschlag des zweiten Flugzeugs in den Südturm Tunnel und Brücken geschlossen. Manhattan befindet sich im Lockdown. Und tausende Menschen wollen nur eines – weit weg von der Unglücksstelle. Im Schatten des Anschlags geschieht über den gesamten Tag etwas, das in diesem Ausmaß bisher unübertroffen ist und das Wesen der New Yorker im Angesicht des größten Terrors am besten beschreibt: Unzählige Wasserfahrzeuge, Schiffe der Küstenwache, Fischerboote, Fähren, selbst Ausflugsboote und private Yachten, werden im Laufe des 11. Septembers fast 500 000 Menschen auf dem Wasserweg aus dem abgeriegelten Manhattan evakuieren. Es beginnt kurz nach dem Einschlag des ersten Flugzeugs als spontane Reaktion von normalen Bürgern und wird als die größte maritime Evakuierung der Menschheitsgeschichte enden.

In den kommenden Wochen und Monaten werden über 1,6 Millionen Tonnen Schutt und Trümmer aus dem Bereich geräumt, der früher einmal das World Trade Center war und der fortan unter den Begriffen Ground Zero oder The Pile zu trauriger Berühmtheit gelangt. Freiwillige aus dem ganzen Land strömen nach New York City, um zu helfen. Erst am 30. Mai 2002 wird das letzte Stück Stahl des World-Trade-Center-Komplexes geborgen. Ein Jahr später werden Teile des Stahls bei der Konstruktion des Kriegsschiffes USSUnited States Ship New York genutzt. Das Schiff wird später an mehreren Missionen im Krieg gegen den Terror, der in Folge der Anschläge geführt wird, teilnehmen.

2753 Menschen sterben in New York City. Unter den Opfern befinden sich 343 Feuerwehrleute und 23 Polizisten des NYPD und 37 der Port Authority. Niemals zuvor und auch niemals seitdem musste eine Rettungsbehörde irgendwo auf der Welt schlagartig solche Verluste an Kameraden hinnehmen. Zusammen mit den 184 Toten vom Pentagon und den 40 getöteten Menschen von Flug United 93 verlieren bei den Terroranschlägen insgesamt 2977 Menschen ihr Leben. Über 3000 Kinder wachsen in Folge ohne mindestens ein Elternteil auf.

Ground Zero

Ground Zero

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Wenn es jemals so etwas wie den Gedanken von einer Welt, einer vereinten Menschheit, gegeben hat, dann kommen die Stunden und Tage nach Nine Eleven, wie der Tag des Anschlags seitdem genannt wird, diesem wohl am nächsten. Die Solidarität mit der Bevölkerung der Vereinigten Staaten ist enorm. Überall auf der Welt versammeln sich Menschen zu Solidaritätskundgebungen. Allein in Berlin kommen über 200 000 zusammen. Selbst im Iran, eigener Darstellung nach Todfeind der Vereinigten Staaten, gedenken wenige Tage nach den Anschlägen tausende Menschen in einem Fußballstadion mit einer Schweigeminute der Opfer vom 11. September. Politisch sorgt der Angriff für den Beginn einer neuen Zeitrechnung. Die NATONorth Atlantic Treaty Organization beschließt am 4. Oktober 2001 zum ersten und bisher einzigen Male in ihrer Geschichte den Bündnisfall, was wenige Wochen später zur Operation Enduring Freedom führen wird. In Folge dessen kommt es zum Krieg in Afghanistan, deren Taliban-Regierung eine Auslieferung des Drahtziehers der Anschläge, Osama Bin Laden, ablehnt, und später im Irak. Auch für die Bundeswehr stellt der 11. September eine Zäsur dar. Er wird die Truppe in einen beinahe zwanzig Jahre andauernden Einsatz an den Hindukusch führen. Es mutet wie ein Vorzeichen auf das, was später kam an, als der deutsche Zerstörer Lütjens drei Tage nach den Terroranschlägen am 14. September 2001 einem USUnited States-Kriegsschiff begegnet, die deutsche Besatzung auf Deck antritt, eine amerikanische Flagge auf Halbmast gehisst und ein von Hand beschriftetes Banner entrollt: „We stand by you“.

Der lange Weg bis Geronimo

Die Drahtzieher hinter Nine Eleven konnten der Rache der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten nicht entgehen. Bereits zwischen dem 14. und 16. November 2001, knapp zwei Monate nach den Terroranschlägen des 11. September und weniger als vier Wochen nach dem Beginn der Operation Enduring Freedom, wurde Mohammed Atef durch einen USUnited States-Luftangriff in Afghanistan getötet. Einige Monate später ging auch Khaled Scheich Mohammed in die Falle. Der pakistanische Nachrichtendienst ISI nahm ihn mithilfe der Special Activities Division der CIA am 1. März 2003 nahe Islamabad, Pakistan fest. Seit mindestens 2006 sitzt Scheich Mohmmed im Guantanamo Bay Detention Center und wartet auf das Ende seines Prozesses, der ihm 2973-fachen Mord vorwirft. Er wird der Todesstrafe wohl nicht entgehen.

Einzig Osama Bin Laden gelang es, sich wesentlich länger versteckt zu halten. Über zehn Jahre jagten Nachrichtendienste und Militärs auf der ganzen Welt nach dem Kopf des Terrornetzwerks Al-Qaida. Trotz eines Kopfgeldes von zwischenzeitlich 25 Million USUnited States-Dollar und mehrerer guter Gelegenheiten, Bin Ladens Habhaft zu werden, gelang es ihm immer wieder, zu entkommen. Spätestens am September 2010 kristallisierte sich jedoch mehr und mehr heraus, dass Bin Laden in Pakistan untergetaucht war. Sein Aufenthaltsort konnte schließlich in einem Versteck in Abbottabad lokalisiert werden. Wenige Monate später gab der damalige USUnited States-Präsident Barrack Obama schließlich grünes Licht für Operation Neptune Spear.

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Aussicht auf Abbottabad

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In der Nacht des 2. Mai 2011 drangen mehrere modifizierte UH-60 Blackhawk des 160th Special Operations Aviation (Night Stalkers) in den pakistanischen Luftraum ein. An Bord der Helikopter befanden sich Spezialkräfte der Red Squadron der Navy-Kommandoeinheit DEVGRU, besser bekannt als SEALs, sowie Mitglieder der Special Activities Division der CIA. Geführt wurde die Kommandooperation von der CIA und dem Joint Special Operations Command. Die SEALs landeten mit ihren Helikoptern auf dem Grundstück in Abbottabad an und kämpften sich den Weg bis zu ihrem Ziel frei, wo sie Osama Bin Laden, den Mann hinter den Terroranschlägen vom 11. September, stellten und erschossen. Mit dem Funkspruch „Geronimo, EKIA“ (Enemy killed in action, Feind im Kampf getötet) kam eine fast zehnjährige Jagd zu ihrem Ende. Als die Nachricht vom durch DNA-Beweise gesicherten Tod des Al-Qaida-Führers öffentlich wurde, versammelten sich jubelnde Menschen am Times Square in New York und überall in den Vereinigten Staaten.

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Präsident Barack Obama und Vize Präsident Joe Biden, mit Mitarbeitern des "national security team", erhalten Neuigkeiten zur Mission gegen Osama bin Laden im "Situation Room" am 1. Mai 2011.

USA/White House/Pete Souza

Zwanzig Jahre danach

Besucht man das New York der heutigen Tage, sind die Erinnerungen an Nine Eleven überall zu finden. Sei es in einem Graffiti zu Ehren der gefallenen Feuerwehrleute auf der Third Avenue in Midtown oder an einer Gedenktafel auf einem Ausflugsboot, das inmitten der Anschläge Menschen über den Wasserweg aus der Stadt evakuierte, nach Staten Island. Auch im Gespräch mit New Yorkern wird eines klar: sie haben weder die Anschläge noch die Toten vergessen. Das Andenken an die Opfer manifestiert sich aber am eindrucksvollsten auf dem Gelände des 9/11 Memorial & Museum und dem Memorial Plaza, welche an Ground Zero errichtet wurden und gleichzeitig als Gedenkstätte und Museum dienen.

Auch in diesem Jahr werden die Lichtkegel des Tribute in Light an die zerstörten Zwillingstürme erinnern und Angehörige und Familien der Opfer des 11. September zum Ground Zero kommen. Ihr Verlust jährt sich zum zwanzigsten Mal. Zwanzig Jahre ohne einen geliebten Menschen, Vater, Mutter, Sohn, Schwester, Kameraden. Sie werden die Namen von Betty Ong, Madeline Sweeney, Daniel Lewin,  Karen Martin, Barbara Arestegui, Kaplan Mychal Judge, Chief Orio Palmer, Tom Burnett, Todd Beamer, Mark Bingham, Jeremy Glick und der anderen 2975 Menschen vorlesen, die an diesem Tag ihr Leben verloren, und die Erinnerung an sie erhalten.

Auch Dorothy Morgans Name wird an diesem Tag verlesen werden. Die zum Zeitpunkt ihres Todes 47-Jährige aus Hempstead, New York, konnte vor wenigen Tagen, am 8. September 2021, identifiziert werden. Weit über zwanzigtausend sterbliche Überreste, die aus den Trümmern des World Trade Centers geborgen wurden, konnten dagegen bisher noch keinem der über 1000 Opfer zugeordnet werden. Sie ruhen heute in einem eigenen Bereich des 9/11 Memorial Site & Museum. Die Arbeiten dauern an, jedem der Opfer ein Gesicht und eine Stimme zu geben. Gegen das Vergessen an diesen Dienstag im September 2001.

Gedenken
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von Lars Neger  E-Mail schreiben

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