Heer
Zum Schutz der Bevölkerung

Auf der Suche nach Blindgängern in Lettland

Bei der Übung Detonator identifizieren und vernichten Pioniere des Heeres Munition gemeinsam mit Kampfmittelabwehrspezialisten Verbündeter.

Eine gewaltige Explosion, ein Feuerball und Rauchwolken entstehen.

Die Ruhe ist trügerisch, eine mächtige Detonation zerreißt die Luft – drei weitere Explosionen folgen. Der Sprengplatz liegt kurz hinter der lettischen Küstenlinie entlang der Ostsee. Sieben Nationen sind an den Sprengungen beteiligt. Die Übung Detonator verbindet das technische Know-how der Kampfmittelabwehrsoldatinnen und -soldaten aus Lettland, Deutschland, Dänemark, Belgien, Estland, Niederlande und Frankreich.

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  • Ein großes altes Geschoss liegt auf Sandboden, im Hintergrund arbeiten zwei Soldaten.
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    Seit Jahrzehnten der Natur ausgesetzt

    „Unter lettischer Führung üben hier insgesamt fast 100 Spezialisten der Kampfmittelabwehr aus sieben Nationen. Das Heer stellt dabei mehr als 50 Soldatinnen und Soldaten, größtenteils von der 1. und 10. Panzerdivision. Das sind vor allem Pioniere, aber auch zusätzliche Spezialisten. Die Pioniere kommen aus den Standorten Havelberg, Minden, Stetten am kalten Markt, Gera, Bogen und Saarlouis“, erklärt Oberstleutnant Holger B. Er ist Kampfmittelabwehrstabsoffizier und Verantwortlicher des deutschen Anteils. Kern der Übung Detonator ist es, Bomben, Granaten, Zünder und Geschosse, die seit Jahrzehnten ungeschützt der Natur ausgesetzt sind, zu beseitigen. Nicht oder nicht vollständig detonierte Kampfmittel werden in der Fachsprache der Pioniere als Unexploded Ordnance, kurz UXO, bezeichnet. „Umgangssprachlich auch Blindgänger genannt, stellen UXOs auch nach vielen Jahren eine große Gefahr dar“, sagt der Offizier.

    Das Übungsareal westlich von Cekule, in dem die Soldaten eingesetzt sind, ist vielgestaltig: große und weite Waldflächen mit engem Bewuchs, aber auch kilometerlange, sandige und breite Waldwege, dazu zerstörte und eingestürzte ehemalige Munitionslagerhäuser. Bis zu den südwestlichen Ausläufern der lettischen Hauptstadt Riga sind es nur noch zwanzig Kilometer. Drei Nationen haben die Geschichte des Geländes geprägt. Zwischen 1920 und 1940 lagerte die lettische Armee in mehr als 50, damals neu errichteten Lagerhäusern Munition. Bis 1945 fiel dieses Munitionslager in die Hände der sowjetischen Armee, aber auch der deutschen Wehrmacht. Mehr als dreißig Explosionen zum Ende des Zweiten Weltkrieges zerstörten das riesige Munitionsdepot. Bis heute liegen die Überreste im Boden und sind eine Bedrohung für die Bevölkerung.  

  • Drei spezielle militärische Räumfahrzeuge hintereinander auf einem Waldweg.
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    Ausbilden – netzwerken – helfen

    Dieses Gebiet ist eines der stärksten mit Kampfmitteln belasteten in ganz Lettland. Wiederkehrend zu jeder Übung Detonator arbeiten Spezialisten aus zahlreichen Nationen zusammen. „Jede Nation hat in der Kampfmittelabwehr – im Bekämpfen von Kampfmitteln – natürlich ihr eigenes Vorgehen. Im Großen und Ganzen aber verfolgen alle das gleiche Ziel. Hier bei Detonator verbinden wir die Professionalität jeder einzelnen Nation mit dem gemeinsamen Ziel, Kampfmittel zu vernichten“, beschreibt der verantwortliche Offizier den Kern der Übung. Die Pioniere üben dabei unter realen Bedingungen und vertiefen den Umgang mit ihren speziell ausgestatteten Fahrzeugen und zugleich den multinationalen Austausch. 

    Das sogenannte Route Clearance System vom Panzerpionierbataillon 803 aus Havelberg wird dabei das erste Mal in Lettland eingesetzt. Es besteht aus verschiedenen Komponenten, die in und an fünf verschiedenen Fahrzeugen verbaut sind. Wobei drei Fahrzeuge davon direkt in den Such- und Freilegungsvorgang eingebunden sind. Alle Fahrzeuge im Verbund bilden das System. „Mit dem Route Clearance System befreien wir Straßen und Wege von Sprengfallen, Sprengsätzen und im Boden liegenden Blindgängern und Munition“, beschreibt Oberleutnant Michael S. Die Soldaten der schweren Kampfmittelabwehrzüge klären damit Kampfmittel auf und legen diese gleichzeitig frei. Die Entwicklung des Systems geht auf die Bedrohungslage aus dem Einsatz in Afghanistan zurück. 

  • Ein ferngesteuertes Spezialfahrzeug fährt allein auf einem Waldweg.
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    Das Route Clearance System – sicher und effizient

    Es hat etwas Gespenstisches. Wie von Geisterhand bewegt sich das Route Clearance System auf Befehl des Oberleutnants. Weit vorn im Suchgebiet fährt als erstes Fahrzeug in der heißen Zone das ferngesteuerte Detektorfahrzeug auf der Basis des Kettenfahrzeugs Wiesel. Die Detektion und Steuerung des Detektorfahrzeugs auf einer Breite von bis zu vier Metern erfolgt ferngesteuert vom Führungsfahrzeug und somit aus sicherer Entfernung. Auf dem umgebauten Wiesel ist ein Bodendurchdringungsradar mit integriertem Metalldetektor verbaut. Die Sensordaten werden von dort aus zur Auswertung drahtlos an das Führungsfahrzeug übermittelt. Auf Befehl des Bedieners markiert das Detektorfahrzeug verdächtige Stellen mit Farbspray und übermittelt diese Position für die weitere Aufklärung an das Manipulatorfahrzeug.

    Das Manipulatorfahrzeug, auch aus der Entfernung gesteuert, nimmt anschließend und punktgenau an diesen Markierungen die Arbeit auf. Für die Aufklärung von Gefahrenstellen wie Straßengräben, Bereichen hinter Mauern, auch schwer einsehbaren Stellen oder an der Munition direkt setzen die Pioniere den Manipulatorarm mit speziellen Sensoren ein. Ähnlich einem fernbedienbaren Bagger mit Video-Live-Überwachung legen die Pioniere damit die vorher detektierten Gegenstände frei. Zusätzlich zu dem hauptsächlich verwendeten Baggerarm können die Soldaten das Fahrzeug mit weiteren, fernbedienbaren Werkzeugen bestücken.

    Das Führungsfahrzeug, ein Transportpanzer Fuchs 1 A8, steht und fährt am weitesten entfernt von der Gefahr, ganz hinten im Suchstreifen. Es ist der mobile und hochgeschützte Führungsstand. In ihm befinden sich die Bedienstände für die Fahrsteuerung des Manipulator- sowie des Detektorfahrzeugs. Der Transportpanzer ist somit die Kommandozentrale für die beiden Hauptkomponenten. Aus sicherer Entfernung steuern die Soldaten aus ihm heraus per Fernbedienung und Videoüberwachung den Einsatz des Route Clearance Systems.

  • Ein Soldat sucht mit einer großen Handsonde die Bodenoberfläche ab.
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    Ein dicht gespanntes Suchnetz

    Einer ganz anderen Herausforderung begegnen die Kampfmittelabwehrsoldaten in sehr dicht bewaldeten und mit Gräben und Löchern durchzogenen Geländeabschnitten. „Hier ist kein Platz für schweres Gerät. Selbst zu Fuß ist es schwierig, einigermaßen sicher voranzukommen“, erklärt Hauptgefreiter Patrick G. Er sucht das Gelände zunächst oberflächlich mit Tiefen- und Metallsonden ab. „In den Geländeabschnitten steckt System“, erklärt er. Das Gebiet, so groß wie fast zwei Fußballfelder, ist mit endlos scheinendem Absperrband durchzogen. So entstehen Geländestreifen, die ungefähr zwei Meter breit und bis zu 50 Meter lang sind. „Mit diesem Vorgehen im Suchstreifen stellen wir sicher, dass auch tatsächlich jeder Punkt in diesem unwegsamen Gelände abgesucht wird. In jedem einzelnen Suchstreifen gehen wir dann ganz systematisch von vorn nach hinten durch“, beschreibt der Hauptgefreiter der Pioniere.

    Mit seiner Hand steuert der Kampfmittelabwehrsoldat eine der hauptsächlich verwendeten Handsonden, die VMR 3 Vallon. „Je nach Erfahrung mit dieser Sonde entsteht im Kopf ein fast virtuelles Bild des Bodens. Die Sonde nutzt mehrere Methoden für die Suche. Mit dem Bodenradar werden Veränderungen der Bodenschichten gemessen und mit dem Metalldetektor werden eben Metalle oder auch Metallverbindungen aufgespürt“, erklärt er. Die Sonde reagiert bei der Suche akustisch, also mit verschiedenartigen Tönen, optisch mit verschiedenen Skalen und dazu mit deutlich zu spürenden Vibrationen. „Anhand all dieser Impulse setzt jeder Kampfmittelaufklärer für sich ein Bild zusammen, das einen sehr genauen Aufschluss über den zu erwartenden Fund gibt. Mit Farbspray markieren wir auch hier wieder die genaue Stelle, und ein nächster Arbeitsschritt beginnt.“

  • Ein Soldat legt mit einem Spaten ganz vorsichtig etwas frei, was der Detektor angezeigt hat.
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    Freilegen, identifizieren, dokumentieren und …

    An den gesetzten Markierungen beginnen nun weitere Soldaten mit der Suche und mit dem Freilegen der angezeigten Fundstücke. „Wir gehen dabei sehr vorsichtig vor. Wir wissen nicht, in welchem Zustand das Objekt ist oder was genau wir dort im Boden finden“, erklärt einer der Stabsunteroffiziere. Die Pioniere haben Routine, wissen aber auch um die Gefahr, die von solcher Munition ausgeht. Sie unterbrechen ihre Grabungen immer wieder und nutzen weitere kleinere Sonden, um das Objekt im Boden zu lokalisieren. Stück für Stück arbeiten sie sich so, manchmal bis zu einem Meter tief, in den Waldboden rundum Cekule hinein. „Beim Graben ist es wichtig, dass wir das Kampfmittel zunächst nicht berühren oder gar bewegen“, beschreibt er das Vorgehen. Sobald ein Fundstück identifiziert werden kann, kommen Kampfmittelabwehrfeldwebel dazu. Mit ihrer besonderen Ausbildung identifizieren sie die Fundstücke und schätzen die Gefährlichkeit ein. „Wir finden hier alles. Das reicht vom ungefährlichen verrosteten Metallteilen bis etwa zu Gewehrgranaten, die aufgrund der Beschaffenheit des Zünders auch nach Jahrzehnten im Boden immer noch sehr gefährlich sein können“, so einer der verantwortlichen Hauptfeldwebel. 

  • Zwei Soldaten mit Tablett dokumentieren die gefundene Munition.
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    … vernichten

    Bei Detonator werden alle Fundstücke nicht einfach gesammelt und der lettischen Armee übergeben, die Arbeit der Pioniere geht weiter. Alle Nationen dokumentieren akribisch ihre Funde und nicht nur das. In einer multinationalen Datenbank werden wichtige Kenndaten wie beispielsweise Art, Zustand und vor allem der Fundort festgehalten. „Das ist sehr wichtig für unsere Arbeit und bedeutet Nachhaltigkeit. Aus Statistiken können wir nach dieser Arbeit ableiten, welche Geländeabschnitte besonders mit Kampfmitteln belastet sind. Und weil solche Arbeiten über Jahrzehnte anhalten, muss genau festgehalten werden, was wir wo gefunden haben. Es wäre fatal, wenn wir Abschnitte auslassen oder Orte – das wäre ja Ressourcenverschwendung – doppelt absuchen würden“, so ein Stabsfeldwebel aus dem Dokumentationszentrum aus Stetten am kalten Markt. Erst nach der Dokumentation werden die Kampfmittel an die lettischen Kameraden übergeben. Nach vier Tagen Detonator übergeben allein die deutschen Soldaten mehr als 1.300 Objekte mit einem Gewicht von mehr als einer Tonne an die lettischen Kampfmittelspezialisten. 
    Und wieder setzen sich die Fahrzeuge in Richtung Sprenglatz in Bewegung. Dort werden die Kampfmittel mittels kontrollierter Sprengung vernichtet. Währenddessen gehen in Cekule die Arbeiten bei Detonator 2023 weiter.

So gehen die Pioniere vor

von René Hinz