Vor 65 Jahren: Die ersten Wehrpflichtigen werden gemustert

Vor 65 Jahren: Die ersten Wehrpflichtigen werden gemustert

Datum:
Ort:
Berlin
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Vor dem Dienstantritt als Soldat steht die Feststellung der körperlichen und geistigen Tauglichkeit. Was heute „wehrmedizinische Begutachtung“ heißt, nannte sich zur Einführung der Wehrpflicht kurz Musterung. Am 21. Januar 1957 wurden die ersten Wehrpflichtigen der 14 Monate zuvor aufgestellten Bundeswehr gemustert – ein Rückblick.

Schwarz-Weiß-Aufnahme: Vier lachende Soldaten halten Kleidung und Zettel in den Händen.

Nach dem Dienstantritt folgt die Einkleidung. Auch der Laufzettel war 1957 schon dabei.

Bundeswehr

Als am 21. November 1955 die Bundeswehr aufgestellt und kurz zuvor die Wiederaufrüstung der noch jungen Bundesrepublik Deutschland beschlossen wurde, war dies in Deutschland politisch und gesellschaftlich sehr umstritten. Zu greifbar, zu allgegenwärtig waren noch die Erfahrungen, die Erlebnisse und die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges, die von Deutschland aus in die Welt gingen.

Doch in Europa standen sich inzwischen zwei rivalisierende Gesellschaftssysteme gegenüber: Der Westen unter USUnited States-amerikanischer und der Osten unter sowjetischer Führung. Zur Verteidigung und zur Abschreckung brauchte die Bundesrepublik in diesem „Kalten Krieg“ daher eine Armee. Entsprechende Zusagen hatte Westdeutschland auch zum Vertrag der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) gemacht.

Dem damaligen Bundeskanzler Konrad Adenauer war rasch klar, dass die darin veranschlagte deutsche Truppenstärke von rund 500.000 Mann allein mit Berufssoldaten und Freiwilligen nicht zu realisieren wäre. Er erstritt, dass die Bundesregierung noch vor Gründung der Bundeswehr die Aufnahme einer Wehrpflicht in das Grundgesetz durch das Parlament erreichte. Erstmals wurde darin auch ein Recht zur Verweigerung des Wehrdienstes aufgenommen. Dies war schlussendlich ganz entscheidend für die gesellschaftliche Akzeptanz der Dienstpflicht, wenn auch der EVG-Vertrag nie in Kraft treten sollte.

Schwarz-Weiß-Aufnahme: Viele junge Männer stehen am Bahnhof mit Gepäck. Sie winken und halten ein Schild hoch.

Am 1. April 1957 traten die ersten 10.000 Wehrpflichtigen ihren Dienst an. Die jungen Männer des Geburtsjahrganges 1937 wurden von ihren Einheiten willkommen geheißen. (Symbolbild)

Bundeswehr

Einführung der Wehrpflicht und Beginn der Musterungen

Rund sechs Monate nach dem Beitritt Deutschlands zur NATO im Mai 1955 wurden am 12. November die ersten 101 Freiwilligen der noch namenlosen neuen deutschen Armee vereidigt. Nachdem diese am 22. Februar 1956 den Namen Bundeswehr bekommen hatte, trat die neue Wehrverfassung in Kraft, der am 21. Juli des Jahres das erste Wehrpflichtgesetz folgte. Darin war zunächst eine Wehrdienstdauer von einem Jahr bestimmt, der Dienstantritt der ersten rund 10.000 Rekruten wurde auf den 1. April 1957 festgelegt.

Gute zehn Wochen zuvor, am 21. Januar 1957, wurden die ersten Wehrpflichtigen des Geburtsjahrganges 1937 gemustert, begleitet von großem Medieninteresse. „Die Zeit“ beschrieb in ihrer Ausgabe Nr. 04/1957 die erste Musterung in Hamburg, bei der sich der Ablauf dadurch verzögert hätte, weil auf einen Wehrpflichtigen etwa zwei wartende Journalisten gekommen wären. Und auch sonst war es wohl relativ voll in den „Wehrersatzämtern“: So dufte nämlich der „wehrreife Jüngling einen Rechtsbeistand oder auch seine besorgten Eltern mitbringen“. Deren Sorge rührte häufig auch aus eigenen entwürdigenden Musterungserfahrungen zu Kriegszeiten.

Die Vorbehalte aber wären nun unbegründet, wie in der zeitgenössischen Berichterstattung zu lesen ist: Während früher vor der Tür des Arztes eine jammervolle Schlange mehr oder weniger wohlgestalteter Nackter geniert herumgestanden hätte, würde bei der Bundeswehr nun jeder einzeln in eine Kabine (mit schließbarer Tür!) hineinkomplimentiert.

„Bitte, husten Sie doch einmal.“

Das zum Inbegriff vormilitärischer Erniedrigung gewordene „Husten Sie mal!“ des Stabsarztes, wenn dieser mit einem beherzten Griff in den Schritt prüfte, ob ein Leistenbruch vorläge, wäre nun so gut wie ganz entfallen, ist im Zeitzeugenbericht zu lesen. „Sollte es dennoch einmal notwendig sein, so heißt es zumindest: Bitte, husten Sie doch einmal.“ Nur die Kniebeugen wären geblieben: „Ja, sie sind sogar von den früheren zehn auf fünfzehn erhöht worden.“ Neu war auch, dass die Wehrersatzämter ausschließlich mit Zivilpersonal besetzt waren.

Schwarz-Weiß-Aufnahme: Ein Mann steht vor einem Lungenröntgengerät, während ein anderer Mann ein medizinisches Gerät bedient.

Auch auf ansteckende Krankheiten wurden die Wehrpflichtigen untersucht: Mit dem Röntgen der Lunge sollte beispielsweise eine Tuberkulose erkannt werden. Die systematische Röntgenreihenuntersuchung war in Deutschland bis 1983 verpflichtend.

Bundeswehr/Peter Strack

Aber auch über besondere Erkenntnisse wusste die Presse zu berichten. So schrieb die „Rheinpfalz“ noch im Januar 1957: „Überraschend war zu hören, dass die körperliche Verfassung bei den 1937ern aus der Stadt Speyer im Allgemeinen besser war als die bei den jungen Männern aus Schifferstadt und den übrigen Gemeinden des Landkreises.“

Denn eingeteilt wurden die angehenden Rekruten nach ihrer Musterung in sechs Gruppen: Die Gruppen 1 bis 3 waren wehrtauglich (bei 2 und 3 mit Auflagen), Gruppe 4 galt als „beschränkt wehrtauglich“, die Gruppe 5 „zeitlich untauglich“ und Gruppe 6 als „dauerhaft untauglich“.

Direkt im Anschluss an die medizinische Untersuchung schloss sich für die jungen Männer ein Gespräch vor der Musterungskommission an, die aus Vertretern der Bürgerschaft bestand. Der Kommission konnten die frisch Gemusterten mitteilen, ob sie zum nächstmöglichen Termin einberufen, zunächst zurückgestellt werden oder aber den Dienst an der Waffe komplett verweigern wollten. Und dann sollten sie ihren Wehrdienst bald antreten, die ersten 10.000 Wehrpflichtigen der Bundeswehr.

Kurzgeschichte der Musterung

Eine Musterung, also eine Inaugenscheinnahme, hat im militärhistorischen Kontext verschiedene Ausprägungen und Bedeutungen. Schon im Römischen Reich wurden die kräftigsten Legionäre betrachtet und ausgewählt. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit wurden Söldner vor der Schlacht gemustert, ob sie beispielsweise die geforderten Waffen funktionsfähig bei sich trugen – denn nur dann wurden sie auch bezahlt.

Die allgemeine Wehrpflicht auch in Friedenszeiten mit vorhergehender Musterung wurde in Preußen im Jahr 1814 eingeführt. Die Bundesrepublik Deutschland setzte ihre Wehrpflicht 2011 aus. Seitdem ist die Bundeswehr eine Freiwilligenarmee. Auch der Begriff „Musterung“ verschwand aus dem militärischen Sprachgebrauch – jedenfalls beinahe. Denn außerhalb des Sanitätsdienstes wird bei der Marine beispielsweise traditionell auch ein allgemeines Antreten als Musterung bezeichnet.

von Sebastian Bangert

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