Sanitätsdienst

Corona-Impfungen: Ethische Aspekte der Pandemie

Corona-Impfungen: Ethische Aspekte der Pandemie

Datum:
Ort:
München
Lesedauer:
7 MIN

Die Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik (LFWME) an der Sanitätsakademie der Bundeswehr hat sich, genau wie der Deutsche Ethikrat, mit den ethischen Implikationen im Umgang mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Im Gespräch mit dem wissenschaftlichen Leiter der LFWME, Dr. Dr. Dirk Fischer, über dieses aktuelle Thema.

Ein Mann steht vor einem großen Bücherregal

Der Mediziner und Theologe Dr. Dr. Dirk Fischer ist der wissenschaftliche Leiter der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik an der Sanitätsakademie der Bundeswehr in München.

Bundeswehr/Simon Höpfl

Gemäß den aktuellen Beschlüssen werden in Deutschland zunächst diejenigen Patienten geimpft, die aufgrund ihres Alters oder ihrer Vorerkrankungen ein erhöhtes Risiko haben, ernsthaft zu erkranken. Es gibt aber auch Gegenstimmen, die die Impfung zuerst für jüngere, in der Regel berufstätige Personen fordern, die ihrer täglichen Arbeit nachgehen und so die Wirtschaft, das Land und den Wohlstand erhalten. Wie ist diese Forderung aus ethischer Sicht zu bewerten?

Hierzu hat der Deutsche Ethikrat die Bundesregierung beraten und eindeutig Stellung genommen. Mit der Frage nach der Priorisierung sprechen Sie ein wichtiges Problem an, das wir in der Ethik als Allokationsproblem bezeichnen. Unter Allokation verstehen wir hier die Verteilung einer begrenzten materiellen Ressource. Wir haben im Moment zu wenig Impfstoff für zu viele Menschen. Auch wenn sich dieses Problem im Verlauf des Jahres entschärfen sollte, wird es uns noch eine Weile beschäftigen.

Tatsächlich erscheint es im Moment moralisch geboten, zunächst diejenigen zu impfen, die besonders gefährdet sind. Das sind vor allem die älteren Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen. Ein solches Schutzkonzept schließt darüber hinaus diejenigen mit ein, die mit vulnerablen Patientinnen und Patienten arbeiten, also medizinisches Personal in Kliniken, Pflegeeinrichtungen und im ambulanten Bereich. Die Impfung dient hier dem eigenen Schutz, sie dient aber vor allem auch dem Schutz der Patientinnen und Patienten. Deshalb sollte sie im Interesse aller sein, die in diesen Bereichen arbeiten.

Die Forderung, Personen vorzugsweise zu impfen, die für ein Funktionieren der Wirtschaft wichtig sind, ist zwar aus ökonomischen Überlegungen heraus nachzuvollziehen. Aber spätestens, wenn diese Vorgehensweise im Rahmen eines Nutzen-Risiko-Abgleiches dazu führt, dass das Leben von Schutzbedürftigen gefährdet wird, ist das medizinethisch nicht zu rechtfertigen. Der Lebensschutz ist in diesem Fall vorrangig zu behandeln.

Betrachtet man die aktuellen Meinungsumfragen zur Impfbereitschaft der Bevölkerung, wollen sich demzufolge nur 50 bis 60 Prozent der Menschen eine Impfung verabreichen lassen. Um eine Herdenimmunität zu erzeugen reicht das aber nicht aus. Ist es aus ethischer Sicht vertretbar, eine Impflicht, insbesondere für medizinisches Personal, aber auch für Soldatinnen und Soldaten, zu veranlassen?

Ein Mann sitzt an einem Schreibtisch mit einem Computer darauf.

Die Frage nach einer gesetzlichen Impfpflicht für bestimmte Personen- und Berufsgruppen wird im Moment kontrovers diskutiert

Bundeswehr/Simon Höpfl

Im Hinblick auf eine etwaige Impfpflicht erscheint es geboten, zwischen der juristischen und der ethischen Ebene zu unterscheiden. Die Frage nach einer gesetzlichen Impfpflicht wird ja im Moment kontrovers diskutiert. Dabei geht es weniger um die Frage, ob eine solche möglich sei, als um die Frage, ob es klug ist, eine solche herbeizuführen. Ich persönlich bin der Meinung, dass die Politik gut beraten ist, eine gesetzliche Impfpflicht im Falle von Corona nicht umzusetzen. Ein solcher Eingriff in die Grundrechte jedes Einzelnen wäre für die Bereitschaft der Bevölkerung bei der Bewältigung der Corona-Krise mitzuhelfen sicherlich nicht förderlich.

Dennoch obliegt dem Staat die Pflicht, für die Impfung zu werben und ihren Nutzen für die Einzelnen und die Gemeinschaft immer wieder zu betonen. Aufklärungsarbeit muss hier an erster Stelle stehen. Da ist im Moment sicherlich noch Luft nach oben, wenn es darum geht, Vorbehalte gegenüber einer Impfung abzubauen. Ich würde mir in dieser Hinsicht eine breitangelegte Informations- und Werbekampagne wünschen, bei der auch Vorbilder aus Politik, Unterhaltung und Sport ein Beispiel geben.

Aus ethischer Perspektive lässt sich sehr wohl fragen, ob es eine moralische Verpflichtung gibt, sich impfen zu lassen. Hier gilt es zu bedenken, welche Verpflichtungen die Einzelnen gegenüber der Solidargemeinschaft haben. Die Pandemie lässt sich nur in einer gemeinsamen Kraftanstrengung bewältigen. Deshalb bleibt eine Einzelentscheidung immer auch rückgebunden an die Gemeinschaft.

Ein Mann steht vor einem großen Bücherregal
Dr. Dr. Dirk Fischer, Wissenschaftlicher Leiter der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik Bundeswehr/Simon Höpfl
Für die Gemeinschaft ist es nicht egal, wie sich die Individuen im Hinblick auf die Corona-Impfung positionieren. Ich bin auf die Mithilfe der anderen angewiesen, genauso wie die anderen auf meine Mithilfe angewiesen sind.

Eine gesonderte Frage ist die von Ihnen angesprochene Impfpflicht für medizinisches Personal oder Soldatinnen und Soldaten. Hier gilt es zu bedenken, dass der Arbeitgeber oder Dienstherr eine Fürsorgepflicht hat. In der Bundeswehr leitet sich hieraus die Impfplicht für Soldatinnen und Soldaten ab, die dem Schutz vor möglichen Erkrankungen in der engen militärischen Gemeinschaft dient. Zweifelsohne spielt dabei auch eine Rolle, den militärischen Auftrag im In- und Ausland erfüllen zu können. Was für die Bundeswehr allgemein gilt, wird noch einmal deutlicher im Hinblick auf den Sanitätsdienst. Neben dem Schutz des Sanitätspersonals muss hier insbesondere der Schutz von Patientinnen und Patienten berücksichtigt werden. Eine abschließende Entscheidung für die Bundeswehr steht jedoch noch aus.

Aufbauend auf der vorhergehenden Fragestellung stellt sich die weitere Frage, ob die Einschränkung von Grundrechten im Sinne des Lockdowns von geimpften Personen weiterhin zum Schutz der Gesundheit und des Gesundheitssystems erforderlich ist. Ist bei den genannten Voraussetzungen der Grundrechtseingriff ethisch noch vertretbar? Wie ist darauf aufbauend ein „Impfausweis“ zu beurteilen?

Eine Spritze wird aufgezogen

Als Solidargemeinschaft werden wir in der Corona-Pandemie auf die Probe gestellt und der Frage nach möglichen Freiheiten für die Geimpften kommt dabei eine wichtige Rolle zu

Bundeswehr/Sandra Herholt

Sie stellen hier die viel diskutierte Frage nach möglichen Privilegien für Geimpfte. Auch hierzu hat der Deutsche Ethikrat sich geäußert und betont, dass es sich nicht um Privilegien handelt, sondern um die Rücknahme von Beschränkungen. Es geht also um die vorzeitige Lockerung von Schutzmaßnahmen für Personen, die bereits eine Impfung erhalten haben. Diese Forderung halte ich für sehr problematisch und dies nicht nur aus der Sorge heraus, dass hierdurch eine indirekte Impfpflicht bedingt werden könnte.

Wie bereits gesagt, stellt der Kampf gegen Corona eine Herausforderung für die Einzelnen, vor allem aber für die Gemeinschaft dar. In diesen Zeiten kommt es in besonderer Weise darauf an, sich mit den Mitmenschen solidarisch zu zeigen. Was Solidargemeinschaft im Kampf gegen Corona bedeutet, haben wir im letzten Jahr auch im Hinblick auf die Einhaltung der Hygieneregeln gesehen: Abstand, Hygiene, Maske. Hinzu kam die Einschränkung von Kontakten und der Bewegungsfreiheit. Diese Maßnahmen ergeben nur Sinn, wenn alle mitmachen und aufeinander Rücksicht nehmen. Darüber hinaus wird das Jahr 2021 ganz von den Impfbemühungen gegen Corona geprägt sein.

Als Solidargemeinschaft werden wir auch hierbei auf die Probe gestellt und der Frage nach möglichen Freiheiten für die Geimpften kommt dabei eine wichtige Rolle zu. Ich denke, dass zunächst einmal geklärt werden muss, ob Geimpfte auch weiterhin das Virus übertragen können. In jedem Fall werden wir auf die wechselseitigen Schutzbemühungen nicht verzichten können. Auch ein Impfausweis kann nicht als Freifahrtschein dienen, solange nicht allen ein Impfangebot gemacht werden konnte.  

Auch wenn es aktuell noch Lieferschwierigkeiten aufgrund der immensen Nachfrage gibt, scheint die Bereitstellung von genügend Vakzinen für Deutschland gesichert. Wie ist aus medizinethischer Sicht mit der Tatsache, dass nicht alle Länder den gleichen Zugang zum Impfstoff haben, umzugehen und wie kann hier Gerechtigkeit erreicht werden? Können wir als Soldatinnen und Soldaten hier einen Beitrag leisten?

Ein Impfstofffläschchen von Biontech-Pfizer

Auch, wenn es aktuell noch Lieferschwierigkeiten aufgrund der immensen Nachfrage gibt, scheint die Bereitstellung von genügend Impfstoff für Deutschland gesichert.

Bundeswehr/Michael Laymann

In der Tat ist die größte Herausforderung, die Pandemie als Weltgemeinschaft zu meistern. Die Tatsache, dass nicht alle Länder in gleichem Maße Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten haben, darf uns nicht egal sein. Hier sind insbesondere die finanzstarken Länder gefragt. Deutschland gehört sicherlich dazu. Es ist wichtig, einem „Impfstoff-Nationalismus“ entgegenzuwirken und vor allem die benachteiligten Länder zu unterstützen.

Ein Mann steht vor einem großen Bücherregal
Dr. Dr. Dirk Fischer, Wissenschaftlicher Leiter der Lehr- und Forschungsstelle für Wehrmedizinische Ethik Bundeswehr/Simon Höpfl
Wir werden uns dereinst fragen lassen müssen, ob wir in dieser Situation auch unserer globalen Verantwortung gerecht geworden sind.

Die Bundeswehr leistet durch die vielfältigen Unterstützungen im Inland bereits wichtige Beiträge zur Bewältigung der Krise. Die Hilfe in Portugal ist ein wichtiges Beispiel für internationale Solidarität. Ob und wie darüber hinaus eine internationale Unterstützung durch Deutschland möglich ist, muss die Politik diskutieren und entscheiden.  

Innerhalb der Bundeswehr erscheint es mir wichtig, in den verschiedenen Unterrichten das Thema aufzugreifen und anzusprechen. Die Politische Bildung oder der Lebenskundliche Unterricht sind hier in besonderer Weise gefragt.

Kein Jahr hat es nun gedauert, einen Impfstoff gegen SARSSchweres Akutes Respiratorisches Syndrom-CoV-2 auf den Markt zu bringen. Stimmen werden laut, die behaupten, die Nutzung eines solchen Impfstoffes sei aufgrund der kurzen Testphase nicht nur wissenschaftlich grob fahrlässig, sondern auch aus ethischer Sicht nicht vertretbar, da Menschen so zu Versuchskaninchen gemacht würden. Was entgegnen sie solchen Vorwürfen?

Die schnelle Entwicklung des Impfstoffes und die schnelle Genehmigung durch die internationalen und nationalen Behörden ist der außerordentlichen Gefahr geschuldet, die COVID-19Coronavirus Disease 2019 für viele Menschen darstellt. Dass es gelungen ist, binnen so kurzer Zeit verschiedene Impfstoffe zu entwickeln, stellt medizinhistorisch gesehen eine einzigartige Leistung dar. Bei der Verwendung der neuen Impfstoffe müssen aus ethischer Perspektive verschiedene Faktoren gegeneinander abgewogen werden. Ganz sicherlich der Gesichtspunkt des Nichtschadens gegen denjenigen des medizinischen Nutzens. Die schnelle Rückkehr zu einem halbwegs normalen Leben wünschen sich viele. Ohne eine Schutzimpfung wird dies so schnell nicht möglich sein. Aber auch hier gilt es, die Bemühungen zur Aufklärungsarbeit weiter zu intensivieren. Eine Impfkampagne ist nur so erfolgreich wie die aufklärungsbasierte Bereitschaft der Bevölkerung, diese mitzutragen.

Herr Dr. Fischer, vielen Dank für das Gespräch!

von Simon Höpfl und  Dr. Dr. Dirk Fischer

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