Impuls für die Gesellschaft – Die Verteidigungspolitischen Richtlinien

Impuls für die Gesellschaft – Die Verteidigungspolitischen Richtlinien

Datum:
Lesedauer:
7 MIN

Dringend und notwendig: 
Impuls für die Gesellschaft – die Verteidigungspolitischen Richtlinien, leitend für das Deutsche Heer und die Gesellschaft

Autor: Alfons Mais
Sprecher: Christopher Steiger

Am 9. November 2023 erließ das Bundesministerium für Verteidigung die neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien (VPRVerteidigungspolitische Richtlinien). Das Ministerium knüpft damit an die Nationale Sicherheitsstrategie der Bundesregierung an und entwickelt sie fort. Beide Dokumente ersetzen das Weißbuch von 2016 und gehen inhaltlich darüber hinaus.

Auch die VPRVerteidigungspolitische Richtlinien stehen unter dem Eindruck der fortlaufenden und vergangenen Krisen der zurückliegenden Jahre. Daher überrascht es nicht, dass die Landes- und Bündnisverteidigung als Kernauftrag für die Bundeswehr herausgestellt wird. Alles andere hat sich unterzuordnen, auch die Aufgaben der Bundeswehr im Rahmen des internationalen Krisenmanagements, der nationalen Krisen- und Risikovorsorge und Beiträge zur Stärkung unserer Partner. 

Die VPRVerteidigungspolitische Richtlinien sind jedoch mehr als eine Definition von Aufträgen. Sie beschreiben Grundlagen für eine leistungsfähige Bundeswehr. Dabei stellen sie die Kriegstüchtigkeit als ein Element von Wehrhaftigkeit allen anderen Grundlagen voran. Wehrhaftigkeit und Kriegstüchtigkeit sind Schlüsselbegriffe für eine gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Die VPRVerteidigungspolitische Richtlinien geben daher einen dringend notwendigen Impuls für die Gesellschaft.

Wehrhaftigkeit betrifft jeden

Zum Erscheinungsdatum dieser Ausgabe liegt die Annexion der Krim ziemlich genau zehn Jahre zurück. Es war nicht das erste Mal, dass Russland einen Nachbarstaat angriff, doch es war der vorläufige Höhepunkt von Putins Missachtung der internationalen Ordnung und seiner brutalen Durchsetzung von imperialen Interessen. Die NATO stärkte im Anschluss die eigene Reaktionsfähigkeit durch die Schaffung der Very High Readiness Joint Task Force (VJTFVery High Readiness Joint Task Force ) und Deutschland beschloss, die Verteidigungsausgaben bis 2024 auf zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIPBruttoinlandsprodukt) zu erhöhen. 

Das Verteidigungsministerium schuf die erforderliche Grundlage mit einem neuen Weißbuch und leitete eine Trendwende ein, um die Bundeswehr wieder zur Landes- und Bündnisverteidigung zu befähigen. Bis 2027 sollte das Deutsche Heer eine einsatzbereite mechanisierte Division aufstellen. 2032 sollte die zweite folgen. Doch dies genügte nicht, um die deutschen Streitkräfte wieder auf Kurs zu bringen. Es fehlte an Verständnis für die Notwendigkeit einer deutlicheren Positionierung gegenüber Russland und der erforderlichen Steigerung der deutschen Wehrhaftigkeit. Dies konnte man insbesondere am fehlenden Willen beobachten, die Bundeswehr – entsprechend der gesteckten Ziele – ausreichend zu finanzieren. 

Als Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine erneut überfiel, diesmal mit dem Ziel, das Land vollständig zu unterwerfen, waren die Reaktionen der Politik entschlossen. Genauso wichtig war jedoch, dass auch die Bevölkerung die Maßnahmen gegen Putins Russland mittrug und die Stärkung der Streitkräfte als notwendig erkannt wurde. Heute ist unstrittig, dass mindestens zwei Prozent des BIPBruttoinlandsprodukt in Verteidigung investiert werden müssen. 

Umfragen zufolge unterstützen 72 Prozent der Deutschen dieses Ziel, das Voraussetzung für die immer wieder geforderte und notwendige Vollausstattung der Streitkräfte ist. Folgerichtig fordern die Nationale Sicherheitsstrategie und die VPRVerteidigungspolitische Richtlinien neben der Unterstützung der Ukraine auch die Steigerung der Wehrhaftigkeit als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Hier können wir uns ein Beispiel an der Ukraine nehmen. Das Land nutzte die acht Jahre zwischen der Annexion der Krim und dem Angriff auf Kyjiw, um ihre Armee und vor allem die eigene Bevölkerung auf einen möglichen Krieg vorzubereiten. Auch in Deutschland ist eine solche Vorbereitung jetzt dringend notwendig. Eine durchhaltefähige und resiliente Bevölkerung entfaltet eine wesentlich glaubhaftere Abschreckung gegen potenzielle Feinde, als es Streitkräfte allein je können werden. Neben staatlichen Instrumenten zur Abwehr von Spionage, Sabotage und Desinformationen kommt es insbesondere auf die innere Haltung aller Bürger an.

Kriegstüchtigkeit – „dabei sein“ ist nicht alles

Die Bundeswehr ist dabei das Kerninstrument der Wehrhaftigkeit unseres Staates gegen militärische Bedrohungen. Für uns gilt der alte Leitspruch Ulrich de Maizières vom „Kämpfen können, um nicht kämpfen zu müssen“. Das Heer richtet sich daher konsequent am anspruchsvollsten Fall, der Landes- und Bündnisverteidigung, aus.

Derzeit mehren sich die Stimmen, die es als wahrscheinlich ansehen, dass Russland spätestens bis zum Ende des Jahrzehnts seine Verluste aus dem Ukrainekrieg kompensiert haben wird und die NATO direkt herausfordern könnte. Dieser potenziellen Gefahr gilt es, mit Entschlossenheit entgegenzutreten. Militärisch müssen wir auf diesen Fall vorbereitet sein. Denn so gravierend die Konsequenzen eines Krieges um das NATO-Bündnisgebiet auch erscheinen mögen, es gibt in einem solchen Fall keine Alternative zum Sieg. Auch hier können wir von der Ukraine lernen, dass der schnelle Aufwuchs von Reservekräften zu einer abwehrbereiten Armee dazugehört.

Deutschland wird durch seine Lage in der Mitte Europas als Drehscheibe eine Schlüsselrolle bei der Verlegung der Truppen unserer Verbündeten an die Ostflanke der NATO spielen. Trotzdem gilt es für das Deutsche Heer zunächst, schnell auf einen Angriff zu reagieren. „Wir werden keinen Zentimeter (unseres Bündnisgebietes) preisgeben“, sagte USUnited States-Präsident Joe Biden vor dem NATO-Gipfel in Madrid im Juni 2022, noch unter dem unmittelbaren Eindruck der russischen Kriegsverbrechen in Butscha stehend. 

Die Ortschaft ist ein mahnendes Beispiel dafür, dass die russischen Streitkräfte nicht davor zurückschrecken, Kriegsverbrechen zu begehen. Es muss daher gelingen, den Feind früh zum Stehen zu bringen, um Übergriffe auf die Bevölkerung zu verhindern und um Zeit zu gewinnen; denn es wird dauern, bis USUnited States-amerikanische Verstärkungskräfte in Europa ankommen werden.

Für das auf dem NATO-Gipfel in Madrid beschlossene neue Kräftemodell stellt Deutschland der NATO für die Verteidigung des Bündnisgebietes ab dem 1. Januar 2025 eine kampfkräftige mechanisierte Division innerhalb von 30 Tagen bereit. Die Einsatzbereitschaft dieser Division ist mein Schwerpunkt als Inspekteur des Heeres. Teil dieser Division wird die neue Panzerbrigade in Litauen sein. In ihr verbinden sich militärische Abwehrbereitschaft und das Signal politischer Entschlossenheit zur Verteidigung des NATO-Bündnisgebietes. 

Gemeinsam mit dem Aufbau der neuen Kräftekategorie der Mittleren Kräfte schafft das Deutsche Heer die Voraussetzungen für einen schnellen Aufwuchs an der Ostflanke der NATO und damit zur „kaltstartfähigen“ Verteidigung Deutschlands und unserer Alliierten. Mit der Panzerbrigade zur unmittelbaren Verteidigung Litauens, unseren Leichten Kräften, die luftbeweglich in wenigen Stunden den Einsatzraum erreichen können, den Mittleren Kräften, welche per Straße die Ostflanke verstärken können, und den Schweren gepanzerten Kräften, die schließlich per Schiene oder Seetransport folgen, decken wir künftig alle Möglichkeiten ab, um uns schnell und schlagkräftig gegen einen Angriff zu stellen. 

Alle Kräftekategorien des Deutschen Heeres werden wir in der Übungsserie Quadriga 2024 üben. Rund 12.000 deutsche Soldaten setzen ein klares Zeichen der Handlungsfähigkeit und der glaubwürdigen Abschreckung, indem sie an der gesamten Ostflanke von Norwegen über Litauen bis nach Rumänien ihre Fertigkeiten unter Beweis stellen.

Um die politische Forderung der Fähigkeit zur Landes- und Bündnisverteidigung zu erfüllen, sind in unserem Heer umfassende Anpassungen notwendig. Ziel ist ein kriegstüchtiges Heer, das ohne Einschränkungen seine Verpflichtungen erfüllen kann. Mit Kriegstüchtigkeit geht explizit auch die Fähigkeit einher, in einem möglichen Krieg den Sieg erringen zu können. 

Um jedoch siegfähig zu sein, müssen wir aus dem aktuellen Krieg in der Ukraine die richtigen Schlüsse ziehen. Bestimmend für deutsche Streitkräfte ist, dass Kriege in Europa an Land verloren werden. Gewonnen werden Kriege jedoch in den Köpfen, in allen Dimensionen und unter Einbindung aller Teilstreitkräfte. Es ist daher notwendig, die aus der einseitigen Fokussierung auf Auslandseinsätze entstandenen kritischen Fähigkeitslücken des Deutschen Heeres schnellstmöglich zu schließen. Das hierfür eminent wichtige Sondervermögen finanziert wichtige Rüstungsprojekte wie beispielsweise Flugabwehrsysteme oder den Schweren Waffenträger Infanterie. Auch den Abbau zahlreicher Artilleriebataillone im Zuge der frühen 2000er-Jahre kehren wir um. Jede Brigade und jede Division muss wieder über eigene schlagkräftige Steilfeuerkomponenten verfügen.

Landes- und Bündnisverteidigung werden auch in Zukunft nur in enger Kooperation mit unseren Partnern zu stemmen sein. Um die Kampfkraft im Bündnis zu erhöhen und der Forderung nach Großverbänden nachzukommen, haben das deutsche und das niederländische Heer ihre Zusammenarbeit weiter intensiviert. Im April 2023 wurde auch die dritte niederländische Brigade einer deutschen Division unterstellt. Damit sind nun alle Brigaden des niederländischen Feldheeres Teil einer deutschen Division. Ziel aller Maßnahmen ist es, wieder kohäsive Großverbände aufzustellen, welche zum Gefecht der verbundenen Waffen befähigt sind.

Allerdings sind die Fähigkeiten unserer Landstreitkräfte letztendlich nur so stark wie die Fähigkeiten und der Einsatzwille unserer Soldaten. Ausrüstung kann beschafft werden und den Umgang damit kann man lernen, aber unser „inneres Gefüge“, der Kern unseres Selbstverständnisses, der muss stimmen. Wesentliche Faktoren hierfür sind der Wille zum Bestehen im Kampf, die mentale Vorbereitung auf die Realität des Krieges und die Weiterentwicklung unserer Traditionen mit Blick auf Landes- und Bündnisverteidigung.

Das Zusammenwürfeln von Einheiten führt zum Verlust dieses Gefüges, mit zum Teil schwerwiegenden Folgen für die individuelle Kriegstüchtigkeit der Soldaten. Wenn wir also Einheiten und Verbände haben wollen, die den Anforderungen des Krieges gewachsen sind, müssen wir lernen, miteinander zu dienen und einander zu vertrauen. Ich bin überzeugt, dass ein starkes kameradschaftliches Band untereinander und die Identifizierung mit der eigenen militärischen Heimat einen erheblichen Einfluss auf die persönliche Einsatzbereitschaft haben. Denn wofür wir dienen, haben wir geschworen. Dass wir dienen, ist wichtig. Aber wie wir gemeinsam dienen, ist entscheidend.

von Alfons Mais