Nachgefragt

In der Ukraine auf dem Boden haben wir eine Pattsituation“

In der Ukraine auf dem Boden haben wir eine Pattsituation“

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
5 MIN

Die Ukraine steht vor Beginn des dritten Kriegsjahres am Scheideweg: Sie musste ihre Gegenoffensive einstellen. Es fehlt an Munition und die Soldaten sind erschöpft. Gleichzeitig spitzt sich die Lage im Gazastreifen zu: Israel nimmt die letzte Hamas-Hochburg ins Visier. Bedrohungsanalyst Oberst i. G. Jörg Tölke zur Lage in den Kriegsgebieten.

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Oberst i.G. Jörg Tölke ist Bedrohungsanalyst im Verteidigungsministerium. Er spricht mit Major David Zeidler von „Nachgefragt“ über die Lage im Ukrainekrieg und die Situation im Nahen Osten.

„Was wir derzeit sehen ist, dass wir insbesondere auf dem Boden in der Ukraine eine Pattsituation haben“, sagt Oberst Jörg Tölke zu ,,Nachgefragt''-Moderator, Major David Zeidler. Entlang der gesamten Frontlinie stünden sich ukrainische und russische Kräfte gegenüber. Die ukrainische Gegenoffensive in Richtung des Asowschen Meeres sei zum Jahresende eingestellt worden. „Weil einfach die Sperrwerke, die Sicherungen der russischen Streitkräfte mit riesigen Minenfeldern einfach zu viel waren, um dort durchzubrechen.“

Um die eigenen Soldaten zu schonen, sei die Ukraine zunächst wieder zur Verteidigung übergegangen, so der Referatsleiter für Krisenfrüherkennung und Bedrohungsanalysen im Verteidigungsministerium. Das Kriegsgeschehen habe sich zuletzt in die Luft verlagert. „Da man am Boden nicht vorwärtskommt, sind beide Seiten dazu übergegangen, mit weitreichenden Wirkmitteln – mit Marschflugkörpern, mit Raketen, mit Drohnen – in den rückwärtigen Raum des jeweils anderen zu wirken“, sagt Tölke. Während Russland das ganze Land mit Luftangriffen heimsuche, setzten die Verteidiger der Ukraine auf gezielte Schläge gegen die Infrastruktur der Invasoren.

Auch wegen des Scheiterns der Gegenoffensive war der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte ausgetauscht worden. Tölke sagt, er erwarte nicht, dass sich dadurch die Art der ukrainischen Kriegsführung ändere. Der neue Oberbefehlshaber sei wie sein Vorgänger in der Truppe anerkannt. Beide hätten eng zusammengearbeitet. „Insofern wird es da keinen Bruch geben“, so der Oberst. „Vielleicht werden wir im Lauf der Zeit Anpassungen sehen, aber etwas grundsätzlich Neues erwarten wir derzeit nicht.“

Ukraine: Wer hält länger durch?

Der Krieg in der Ukraine geht bald in sein drittes Jahr. Das wirft die Frage auf, wie lange die verfeindeten Länder weiterkämpfen können. „Man kann sicherlich feststellen, dass Russland neben den Ressourcen, die es selber generieren kann – aus der Masse der Bevölkerung das Personal wieder aufzufüllen und aus der Depothaltung Material nach vorne zu bringen –, auch von anderen Nationen unterstützt wird“, sagt Tölke. Die hohen Verluste an erfahrenen Soldaten würden allerdings gegen Russland sprechen, so der Oberst. „Sodass sie diese Masse an Material aufgrund fehlender Ausbildung und fehlender Schulung der Offiziere auch nicht gewinnbringend an der Front einsetzen können.“

Im Fall der Ukraine sehe das etwas anders aus, so der Bedrohungsanalyst. „Die Ukraine ist deutlich kleiner. Dort ist es natürlich schwieriger, in einem langen Zeitraum das Personal zu generieren.“ Man gehe im Verteidigungsministerium davon aus, dass die Ukraine auch in den nächsten Jahren ausreichend neue Soldaten rekrutieren könne. „Einfach aus der Motivation auch heraus: Sie verteidigen ihr eigenes Land, ihre Werteordnung. Insofern werden sie dort auch durchhaltefähig bleiben.“ 

Allerdings sei die Ukraine auf die Unterstützung aus dem Westen angewiesen – insbesondere, was die Artillerie und die Luftverteidigung angehe. „Das ist derzeit der Punkt, der so ein bisschen Sorge bereitet. Das dieser Nachflussstrom erhalten bleibt“, sagt Tölke. Werde die Ukraine weiter unterstützt, könne sie den Krieg auch weiter mit Erfolg führen.

Gaza: Letzte Hamas-Bastion vor dem Fall

Erfolgreich ist auch Israel im Kampf gegen die Terrororganisation Hamas, die im Oktober letzten Jahres bei einem beispiellosen Massaker rund 1.200 Israelis getötet und mehr als 200 verschleppt hatte.

Gaza-Stadt sei unter Kontrolle und die Hamas-Infrastruktur im mittleren Gazastreifen zerschlagen worden, so Tölke. Im südlichen Gazastreifen hebe die israelische Armee nun die Führungseinrichtungen der Hamas aus. Danach bleibe nur noch die Grenzstadt Rafah übrig. Dort halten sich nach israelischen Angaben noch schlagkräftige Hamas-Einheiten auf. „Ein Ziel der Israelis neben der Geiselbefreiung ist natürlich, die militärischen Fähigkeiten der Hamas dauerhaft auszuschalten“, sagt Tölke. Seine Prognose sei: „Es wird ein weiteres Vorgehen in Richtung Rafah irgendwann geben müssen, wenn es keine politische Lösung gibt.“  

Das ist insbesondere deswegen problematisch, weil mehr als eine Million Zivilistinnen und Zivilisten aus den anderen Teilen des Gazastreifens in Rafah Zuflucht gesucht haben sollen. Eine humanitäre Katastrophe wird befürchtet, wenn die israelischen Streitkräfte zum Angriff antreten.

„Den Israelis geht es darum – und auch da denken sie in die Zukunft –, möglichst unter Vermeidung ziviler Verluste zu agieren“, stellt Tölke klar. Das sei an der bisherigen Gefechtsführung der israelischen Truppen zu sehen. „Was wir nicht sehen, ist der große, breite Angriff gepanzerter Verbände, die dann den Orts- und Häuserkampf mit Großgerät machen. Die brachial Breschen schlagen, um Schussfeld zu schaffen. Das findet dort alles nicht statt.“

Stattdessen setze Israel auf seine Aufklärung, um die Schaltzentralen der Hamas zu finden und mit gezielten Schlägen auszuschalten, so der Oberst. Das habe man auch bei der Befreiung von zwei Geiseln aus der Hand der Terroristen am Wochenende erleben können. „Auch dort hat man sehr genau aufgeklärt, um dann mit einer Spezialoperation mit wenigen Kräften einzugreifen und die Geiseln zu befreien.“

von Timo Kather

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