Nachgefragt

Militärhistoriker zu Putins Ukraine-Bild: „Geschichte wird als Waffe genutzt“

Militärhistoriker zu Putins Ukraine-Bild: „Geschichte wird als Waffe genutzt“

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
4 MIN

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Um Konflikte zu verstehen, müssten ihre historischen Wurzeln ergründet werden, sagt Oberst Dr. Sven Lange. Der Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr) erklärt in „Nachgefragt“ die Hintergründe des russischen Überfalls auf die Ukraine.

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Oberst Lange ist Kommandeur des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr). Mit „Nachgefragt“-Moderatorin, Frau Oberleutnant Lara Weyland, spricht er über die historischen Wurzeln des Krieges in der Ukraine.

Für den Ukrainekrieg sei das Verständnis der historischen Hintergründe besonders wichtig, sagt Oberst Lange zu Frau Oberleutnant Lara Weyland, der „Nachgefragt“-Moderatorin. „Weil Putin als Begründung für seinen Angriff auf die Ukraine ein historisches Narrativ nutzt.“ Dieses habe der russische Präsident vor Kriegsbeginn in einem Aufsatz zu Papier gebracht, so der Kommandeur des ZMSBwZentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr. Aus Putins Perspektive sei die Ukraine zusammen mit Russland und Weißrussland „Teil des dreieinigen Russlands“ ohne eigene nationale Identität. Der ukrainische Staat sei demnach ein Ergebnis „ausländischer Einflüsse“, und diese Entwicklung müsse laut Putin wieder rückgängig gemacht werden.
 
„Geschichte wird als Waffe benutzt“, fasst Oberst Lange die Strategie des russischen Präsidenten zusammen. „Rein völkerrechtlich betrachtet gibt es selbstverständlich gar keine Zweifel, dass es einen souveränen ukrainischen Staat gibt mit einem eigenen Staatsgebiet und einem eigenen Staatsvolk.“ Rund drei Viertel der mehr als 40 Millionen Staatsbürger würden sich heute als Ukrainerinnen und Ukrainer identifizieren. Acht Millionen Menschen beziehungsweise 17 Prozent der Bevölkerung hätten sich vor dem Krieg als Russen bezeichnet. Hinzu kämen verschiedene Minderheiten.

Historisch gesehen seien die Dinge aber nicht ganz so einfach, so Lange. In der Ukraine hätten sich bis in die Neuzeit die Einflusszonen Polen-Litauens, des russischen Zarenreiches und des Osmanischen Reiches berührt. Die Region sei eine Grenzregion gewesen, in der viele verschiedene Völker siedelten. „Eine wirkliche ukrainische Nationalbewegung entsteht erst im 19. Jahrhundert – wie auch in anderen Teilen Europas – und einen wirklichen Nationalstaat, den gibt es erst mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991.“

Russland scheiterte politisch – und setzte auf Gewalt

Drei Ereignisse hätten die Entwicklung einer eigenen ukrainischen Identität begünstigt, so der Militärhistoriker: die als „Holodomor“ bekannte Hungerkatastrophe mit Millionen Toten in den 1930er-Jahren als Folge der Vergesellschaftung von Wirtschafts- und Agrarbetrieben unter Stalin, die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986, die seitens der sowjetischen Führung vertuscht werden sollte, sowie das Ende der Sowjetunion 1991. „Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion im Dezember erklärt sich die ukrainische Sowjetrepublik für unabhängig. Im gleichen Jahr gibt es eine Volksbefragung, die große Mehrheit ist dafür. Und seitdem ist die ehemalige Sowjetrepublik eben ein nationaler Staat der Ukrainer.“

Die Ukraine sei im Anschluss zwischen Ost und West hin- und hergependelt, so der Oberst. Doch seit der Orangenen Revolution 2004 ginge der russische Einfluss auf das Land stetig zurück. Damals hatte sich ein prowestlicher Präsident durchgesetzt. Russland habe im Anschluss versucht, durch politischen Druck eine stärkere Westbindung der Ukraine zu verhindern. „Spätestens mit dem Euromaidan wird klar, dass diese Politik gescheitert ist. Und jetzt greift Russland zu Gewaltmitteln: Nach dem Euromaidan besetzt Russland die Krim, die Krim wird danach auch annektiert von Russland. Und das Gleiche passiert in den angesprochenen Ostgebieten, also Luhansk und Donezk.“ 

Die Krim als Schlüssel zum Konflikt?

Mit den Euromaidan-Protesten in Kiew hatte die ukrainische Gesellschaft 2014 den letzten prorussischen Präsidenten aus dem Amt gezwungen. Seitdem wird in der Ukraine gekämpft. Anfangs seien die ukrainischen Streitkräfte schwach gewesen. „Die Krim wird ja fast ohne Verluste für Russland genommen“, so Lange. Die Halbinsel sei nicht nur ein Sehnsuchtsort vieler Russen, sondern auch von strategischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Durch ihre Annexion sei Putins Ansehen in der Heimat enorm gestiegen.

„Ich vermute, dass er diesen Popularitätserfolg in großem Stil jetzt noch einmal wiederholen wollte.“ Offenbar sei kein großer Widerstand seitens der Ukraine erwartet worden. „Da hat man sich offensichtlich massiv geirrt.“ In nicht einmal zehn Jahren seien die ukrainischen Streitkräfte mit westlicher Hilfe so reformiert worden, dass sie Russland die Stirn bieten könnten. 

Gelänge der Ukraine die Rückeroberung der Krim, werde dies einen massiven Einfluss auf den weiteren Verlauf und vermutlich auch auf das Ende des Krieges haben, prognostiziert der Oberst. „Der positive Effekt der Annexion der Krim würde sich in das Gegenteil verwandeln und damit für die russische Regierung ein erhebliches Problem darstellen.“ Wenn Russland scheitere und die Ukraine den Weg der Demokratisierung weitergehe, könne das Land zum Vorbild werden: für andere Staaten, die dem russischen Einfluss zu entrinnen suchen. 

von Timo Kather

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