Nachgefragt

„Russland hat seit Kriegsbeginn 400.000 Soldaten verloren“

„Russland hat seit Kriegsbeginn 400.000 Soldaten verloren“

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
4 MIN

Russland überzieht die Ukraine zu Beginn des dritten Kriegsjahres mit massiven Luftangriffen auf die Bevölkerungszentren und die Energie-Infrastruktur des Landes. Auch am Boden scheinen die Invasionstruppen voranzukommen. Wie bewertet der Leiter des Sonderstabs Ukraine im Verteidigungsministerium, Generalmajor Dr. Christian Freuding, die Entwicklungen?

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Generalmajor Dr. Christian Freuding leitet den Sonderstab Ukraine im Verteidigungsministerium. Mit „Nachgefragt“-Moderator Hauptmann Hannes Lembke analysiert er die Situation in der Ukraine.

„Natürlich ist es so, dass Russland derzeit in der Initiative ist“, stellt Generalmajor Dr. Christian Freuding fest. Das gelte vor allem auf dem Boden, aber auch in der Luft, so der Leiter des Sonderstabs Ukraine im Verteidigungsministerium. „Seit Jahresbeginn ist es den russischen Streitkräften gelungen, ungefähr 300 Quadratkilometer Raum zu nehmen.“ Die ukrainischen Streitkräfte seien im nordöstlichen Frontabschnitt zurückgedrängt worden. Zudem hätte Russland Mitte Februar die Stadt Avdijiwka erobert.

Hauptgrund für diese Erfolge sei die artilleristische Überlegenheit Russlands. „Die Russen sind in der Lage, bis zu 20.000 Schuss in etwa pro Tag abzufeuern“, sagt Freuding. Ein weiterer Faktor für die Geländegewinne Russlands sei, „dass die russische Luftwaffe dazu übergegangen ist, in verstärktem Maß sogenannte Gleitbomben einzusetzen.“ Diese könnten von der ukrainischen Luftverteidigung nur schwer bekämpft werden. Zudem würden die russischen Streitkräfte „die ukrainischen Stellungen mit unterschiedlichen Arten von Drohnen permanent angreifen“, führt der Generalmajor weiter aus. Seit Anfang März würden auch die ukrainischen Städte wieder gezielt aus der Luft attackiert.

Übersichtliche Geländegewinne für Russland

Allerdings müssten die Geländegewinne Russlands ins Verhältnis gesetzt werden, so der Generalmajor zu „Nachgefragt“-Moderator Hauptmann Hannes Lembke. 300 Quadratkilometer entsprächen in etwa der Größe Leipzigs. „Aus ukrainischer Sicht ist es so, dass die Geländegewinne der Russen übersichtlich sind“, sagt Freuding. Teilweise sei der Raum bewusst preisgegeben worden. „Einfach, um eigenes Material und eigene Truppe zu schonen. Aber auch, um in günstigere Stellungen auszuweichen und von dort den Feind erfolgreicher bekämpfen zu können“, so der Generalmajor.

Insgesamt ergebe sich ein differenziertes Gesamtbild, sagt Freuding. So sei die Front im Oblast Saporischschja relativ ruhig. „Und wenn wir ganz in den Südwesten gucken, im Raum Cherson: Da ist es immer noch so, dass die Ukrainer ihre Stellungen am linken Dnjepr-Ufer behaupten können.“ Der ukrainischen Luftverteidigung gelänge nach wie vor, drei Viertel der russischen Luftangriffe abzuwehren, so Freuding. „Umgekehrt sind die Ukrainer immer mehr in der Lage, insbesondere durch Drohnen bis weit in das russische Kernland hineinzuwirken.“

Zudem hätte die Ukraine der russischen Schwarzmeerflotte so zugesetzt, dass sie sich habe zurückziehen müssen. „Das Schwarze Meer ist wieder fast so etwas wie ein ukrainisches Meer geworden“, sagt Freuding. „Das ist durchaus ein militärischer Erfolg für die Ukraine, und das zeigt, dass das Gesamtbild der militärischen Lage im Moment durchaus viele Stufen von Grau abbildet.“

Insgesamt hunderttausende Tote auf beiden Seiten

Sowohl Russland als auch die Ukraine hätten enorme Verluste zu verkraften, so der Generalmajor. „Wir gehen derzeit davon aus, dass die russischen Streitkräfte seit Kriegsbeginn 400.000 Soldaten verloren haben.“ Allein während der viermonatigen Schlacht um Avdijiwka habe Russland 15.000 Soldaten eingebüßt. „Das ist ungefähr die Zahl, die die Russen in zehn Jahren Afghanistankrieg verloren haben“, sagt Freuding.

Die Ukraine sei bei der Bekanntgabe ihrer Verlustzahlen sehr zurückhaltend, so der Generalmajor weiter. „Wir müssen aber davon ausgehen, dass jetzt im Frühjahr auch die ukrainischen Truppenteile dringend des Wiederauffüllens mit Personal bedürfen.“ Seinem Eindruck nach seien die ukrainischen Streitkräfte nach wie vor „geprägt von einer festen Entschlossenheit“, so Freuding. Nach 770 Tagen Krieg sei natürlich eine gewisse Erschöpfung in der Truppe festzustellen, sagt der Generalmajor. „Die aber wettgemacht wird durch den Willen, diesen Krieg auch gewinnen zu wollen.“

von Timo Kather 

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