Nachgefragt

„Vorn im Schützengraben ist der Soldat auf sich und auf seine Kameraden angewiesen“

„Vorn im Schützengraben ist der Soldat auf sich und auf seine Kameraden angewiesen“

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
7 MIN

Der andauernde brutale Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine fordert viele Tote und Verletzte. Oberstarzt Dr. Kai Schmidt spricht über die Verwundungen, die Soldatinnen und Soldaten im Gefecht erleiden. Er erklärt, über welche Versorgungswege sie hinter die Frontlinie gelangen und was die Bundeswehr aus dem Beschuss von Sanitätseinrichtungen lernt.

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Oberstarzt Dr. Kai Schmidt ist Leiter des Lagezentrums Sanitätsdienst im Kommando Sanitätsdienst der Bundeswehr in Koblenz. Er erklärt in „Nachgefragt“, wie die Ukraine verwundete Soldatinnen und Soldaten versorgt.

Rund 31.000 ukrainische Soldatinnen und Soldaten sind laut Präsident Wolodymyr Selenskyj in zwei Kriegsjahren gefallen. Über die Zahl der Verletzten gibt es keine genauen Angaben. Von hohen Verlusten ist jedoch auszugehen, denn jeden Tag werden Soldatinnen und Soldaten an der Front teils schwer verwundet. Wie funktionieren Erstversorgung und Weitertransport der Verwundeten in Krankenhäuser? „Wenn der Verwundete im Schützengraben ist und am frühen Morgen verwundet wird, dann kann es mitunter sein, dass er aufgrund des Feinddruckes und des Beschusses eben nicht in der kürzesten Zeit nach hinten gebracht werden kann,“ sagt Dr. Kai Schmidt, Oberstarzt der Bundeswehr. Gegebenenfalls müsse der Verwundete den ganzen Tag bis zur Deckung durch die Dunkelheit dort mit seinen Kameraden aushalten. 

Platinum Minutes – die ersten zehn Minuten entscheiden 

Entscheidend sei es, zunächst die Blutung mit Tourniquets, also Abbindern, zu stoppen. Entweder lege der Verwundete selbst diese Abbinder an, oder aber der Kamerad neben ihm im Schützengraben übernehme dies. Relevant seien „die ersten zehn Minuten, die sogenannten Platinum Minutes“, betont der Oberstarzt. „Bei starken Verletzungen ist es dann wichtig, dass innerhalb der nächsten Stunde ein erster Arzt auf die Verwundungen schauen kann.“ Innerhalb von zwei Stunden sollte ein Verwundeter mit extremen Blutungen in ärztliche Obhut kommen. Da jedoch im Gefecht unter Beschuss nicht alle Zeitlinien gehalten werden könnten, spielten die ersten zehn Minuten eine so lebenswichtige Rolle. Nach der Ersten Hilfe im Schützengraben würden die Verwundeten von ihren Kameraden zum Casuality Collection Point, dem Verwundetensammelnest, gebracht. Dafür brauchen die Helfer Ausdauer und Kraft: Gegebenenfalls „per Schleiftrick oder etwa hinterhergezogen im Schlafsack oder auf Behelfstragen“ müssten die Kameraden die Verwundeten dorthin bringen.

„Es kann sich auch um Wochen handeln“ 

Hier kümmere sich ein Combat Medic, also ein sanitätsdienstlich fortgebildeter Soldat, um die Verwundeten. Dieser kontrolliere den Sitz der Tourniquets, binde gegebenenfalls nach und triagiere: „Wer hat Chance, wer hat keine Chance?“ 

Der Combat Medic halte die Verwundeten an dieser Stelle, bis ein Weitertransport weiter nach hinten möglich sei. Mehrere Stunden, aber auch eine Wartezeit über Tage und sogar Wochen seien Realität: „Auch das haben wir in der Ukraine im Kriegsverlauf leider sehen müssen“, so Schmidt. „Wir können grob sagen, dass vom Schützengraben beginnend bis zur ersten Sammelstelle für Verwundete wir eine Distanz von etwa zehn Kilometern haben, in der der Verwundete quasi zu Fuß und improvisiert gebracht werden muss“, fasst Schmidt zusammen.

Raus aus der Frontlinie

Die sich daran anschließende Versorgungsebene spiele sich in einem Streifen von 15 bis 30 Kilometern ab:  Ungeschützte Verwundetenfahrzeuge verlegten die Patienten nach hinten, weg von der Front. Ein Arzt, der den Verwundeten notfallmedizinisch versorge, sei erst in etwa 30 Kilometern Entfernung zur Stelle. Auf diese sogenannte Rolle 1 der Versorgung folgten mit Rolle 2 Krankenhäuser und Rolle 3 Hospitäler wie Universitätskliniken, die sich auf großen Distanzen von 200 Kilometern hinter der Front und weiter dahinter befinden würden, sagt Schmidt. 

Das Gros der Verwundeten bringe man mit Zügen in Militär- und Universitätskliniken in größere Städte wie Odessa, Kyjiw oder auch Lwiw. „Die Ukraine betreibt mehrere dieser Verwundetentransportzüge und in einen solchen Zug können 250 Patienten eingeladen werden, um dort dann in den großen Krankenhäusern nachoperiert zu werden.“ Dort lege man auch fest, welche Verletzten außerhalb der Ukraine – auch in Deutschland – weiterbehandelt werden müssen. 

Apotheker, Zahnärzte und Tierärzte im Kampf gegen den Tod

Die Ärzte, die sich auf erster Versorgungsebene um die Verwundeten kümmerten, seien jedoch keine ausgebildete Chirurgen, „sondern es sind Ärzte, es sind Hausärzte, es sind Apotheker, es sind Zahnärzte, es sind Tierärzte, die sich dann mit ihren Fähigkeiten einbringen, um das Leben zu erhalten.“ Diese sehen sich mit schwersten Verletzungen konfrontiert, die die Soldatinnen und Soldaten im Gefecht erlitten haben. Denn die Waffenwirkung der neuen, modernen Waffensysteme verursache nicht einen normalen Schuss, der vorne ein- und hinten austrete: „Ich spreche hier von der Drohne. Ich spreche von den ausgeprägten Minenfeldern, die die Russen angelegt haben. Ich spreche aber auch von der Artillerie, die heutzutage bis zu 80 Kilometern wirkt.“ Darum stünden die Ärzte Explosions- und Schrapnellverletzungen sowie Verbrennungen gegenüber, die oftmals zum Verlust von Extremitäten führten und insbesondere da auftreten würden, wo keine Schutzweste oder kein Gefechtshelm schützen könne: Sowohl an den Extremitäten als auch an Gesicht und Hals sei das Verwundungsrisiko besonders hoch.

Gezielter Beschuss von Krankenhäusern

Die Ukrainer versuchen alles, dass sie die Versorgung am Stabilisierungspunkt idealerweise unter Tage abbilden, also in Keller gehen, um möglichst gegen entsprechende Waffenwirkung geschützt zu sein.“ Denn genauso wie vorn an der Front stünden auch diese Krankenhäuser der Rolle 2 unter Beschuss. „Und nach Quellen der WHOWorld Health Organization ist es so, dass wir pro Tag etwa zwei Krankenhäuser haben, die in der Ukraine von den Russen angegriffen werden. Bewusst angegriffen werden“, unterstreicht der Oberstarzt. Dass die Russen selbst ungeschützte und als solche mit dem roten Kreuz, mit Blaulicht oder Martinshörnern gekennzeichnete Verwundetenfahrzeuge gezielt beschießen würden und sowohl vor Krankenhäusern als auch anderen Sanitätseinrichtungen keinen Halt machten, sei die größte Herausforderung für den Sanitätsdienst der Ukraine. „Etwa 30 Prozent des Sanitätspersonals fallen“, so Schmidt. Feinddruck und Beschuss, aber auch der Mangel an sanitätsdienstlichem Material erschwere die Situation.

Was lernt die Bundeswehr daraus?

„Das ist zum einen: Wie gehen wir mit dem Beschuss des roten Kreuzes um?“ Entweder müsse man geschützt sowohl beim Patiententransport als auch innerhalb der sanitätsdienstlichen Einrichtung vorgehen. „Oder man ist schnell.“ Etwa, indem man Verwundete in einfach zu verlegenden Zelten behandele und Material nutze, das mit wenigen Handgriffen zusammengepackt werden könne. Zum anderen müsse man in der Ersthelfer-Alpha-Ausbildung, die jede Soldatin und jeder Soldat der Bundeswehr zu absolvieren hat, den Fokus auf die wenigen, aber lebensentscheidenden Prinzipien setzen: Wie lege ich richtig ein Tourniquet an? Was muss ich in den ersten zehn Minuten machen, damit mein Kamerad gute Überlebenschancen hat? Innerhalb der Bundeswehr werde man den Schwerpunkt auf die Ausrichtung an der taktischen Medizin legen, „um hier auf das einzugehen, was wir aus der Ukraine leider mit dem Blutzoll der Ukrainer lernen müssen.“ So sei man auf eine mögliche Konfrontation, die Deutschland oder die Bundeswehr in Zukunft haben könnten, vorbereitet.

Von der Bundeswehr erwarteten die Ukrainer, dass ihre Soldaten noch mehr in allen sanitätsdienstlichen Ebenen ausgebildet würden. „Warum? Weil sie merken, dass die Verfügbarkeit von Sanitätsdienst vom Schützengraben bis zum Krankenhaus absolut relevant ist, einen Rückhalt gibt, einen moralischen Impact hat, dass der Soldat weiß: Im Falle eines Falles, wenn ich verwundet werde, dann wird alles dafür getan, dass ich wieder gesunden kann,“ resümiert der Oberstarzt.

von Evelyn Schönsee

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