Nachgefragt

Minensperren bremsen ukrainischen Angriffsschwung

Minensperren bremsen ukrainischen Angriffsschwung

Datum:
Ort:
Berlin
Lesedauer:
4 MIN

Die ukrainische Gegenoffensive zur Rückeroberung der von Russland besetzten Landesteile im Osten und Süden tritt mit Herbstbeginn in eine wichtige Phase ein. Auch das Schwarze Meer und die Krim werden zu Kriegsschauplätzen. Kann Russland zurückgedrängt werden? Bundeswehr-Oberst Jörg Tölke ordnet die aktuellen Entwicklungen ein.

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Der Bedrohungsanalyst im Verteidigungsministerium spricht mit Frau Hauptmann Janet Watson von „Nachgefragt“ über die Gegenoffensive der Ukraine zur Befreiung der von Russland besetzten Landesteile. Wie ist die Lage an der Front?

„Der Schwerpunkt der Gefechte spielt sich derzeit im Süden ab, im Raum um Robotyne“, sagt Oberst i. G. Jörg Tölke. Er ist Bedrohungsanalyst im deutschen Verteidigungsministerium. Die ukrainischen Streitkräfte hätten auf zwei Achsen angegriffen, so Tölke zu Frau Hauptmann Janet Watson, der „Nachgefragt“-Moderatorin.

Die erste Angriffsachse liege bei der Ortschaft Welika Nowosylka. „Dort haben die ukrainischen Kräfte mit mehreren Brigaden – eine Brigade, das sind vier- bis fünftausend Mann plus Gefechtsfahrzeugen, Kampfpanzern, Schützenpanzern und viel Artillerie – Raum nehmen können.“ Das zurückeroberte Gebiet werde nun gesichert, um möglicherweise in Kürze weiter vorzustoßen.

Durchbruch bei Orikhiv

„Angriffsgefechte sehen wir derzeit im Raum Orikhiv“, führt Tölke weiter aus. „Hier sehen wir auch den Schwerpunkt der ukrainischen Angriffsbemühungen mit mehreren Brigaden, die dort angreifen.“ Dort sei es gelungen, die erste russische Verteidigungslinie zu durchbrechen und mit Panzern nachzurücken. „Die russischen Kräfte versuchen gerade, diesen Durchbruch wieder einzudämmen.“

Die Gegenoffensive der Ukraine komme aber vor allem aufgrund des engen Netzes aus russischen Minensperren nur langsam voran, so Tölke. Werde ein Sperrstreifen durchbrochen, warte kurz darauf schon der nächste auf die Angreifenden. Mechanisierte Verbände könnten kaum Geschwindigkeit aufnehmen und größere Raumgewinne erzielen. „Weil dieser Angriffsschwung gleich durch die nächsten Sperrwerke und russisches Abwehrfeuer gebremst werden wird“, sagt Tölke, der selbst ein Panzerbataillon geführt hat.

Widerstand in besetzten Gebieten

Unterstützt wird die Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte von Widerstandsgruppen, die in den von Russland besetzten Gebieten operieren. „Diese Gruppierungen nutzen im Prinzip das ganze Spektrum – von Propaganda, von Flugblättern bis hin zu Sprengstoffanschlägen auf logistische Einrichtungen der Russen.“

Seit Beginn der Gegenoffensive sei eine Häufung solcher Aktionen festzustellen. Zudem seien die Aktivitäten des Widerstandes mit den Angriffen der regulären ukrainischen Streitkräfte abgestimmt, so der Oberst. „Das sind immer wieder Nadelstiche gegen Führungseinrichtungen, gegen russische Führer in diesen Gebieten, die dazu taugen, Sicherungskräfte zu binden und immer wieder Unruhe zu stiften.“ Der Widerstand sei allerdings nicht stark genug, um die Besatzungstruppen in größere Gefechte zu verwickeln. 

Katz und Maus im Schwarzen Meer

Auch das Schwarze Meer und die schon seit 2014 von Russland besetzte Halbinsel Krim werden im Zug der Gegenoffensive immer mehr zu Kriegsschauplätzen. „Russland ist darauf bedacht, seinen Einfluss in diesen Räumen auszubringen. Demgegenüber stehen die Ukrainer, die mit sehr findigen und innovativen Ideen versuchen, die russischen Kräfte wieder zurückzuwerfen“, sagt der Oberst. So gelang der Ukraine am 22. September ein Schlag gegen das Hauptquartier der Schwarzmeerflotte Russlands auf der Krim. Dabei wurden nach Angaben der Ukraine knapp drei Dutzend russische Offiziere getötet.

Vor allem im Luftraum über dem Schwarzen Meer würden „heftige Schlagabtäusche“ stattfinden, so Tölke. Während Russland versuche, mit Luftangriffen auf die ukrainischen Häfen den Handel zu erschweren, würden die Ukrainer vor allem logistische Knotenpunkte auf der Krim attackieren, um die Versorgung der Besatzungstruppen zu erschweren.

Die ukrainischen Streitkräfte hätten sich vor allem entlang der eigenen Küstenlinie Bewegungsfreiheit verschafft. „Ehrlicherweise muss man aber auch sagen, dass die Russen derzeit überhaupt keine Notwendigkeit haben, in diese Seegebiete einzufahren.“ Die Ukraine habe den überlegenen Seestreitkräften Russlands wenig entgegenzusetzen. Diese seien in der Lage, den Schiffsverkehr entlang der ukrainischen Küste jederzeit zu unterbinden. „Das ist derzeit eher so ein bisschen ein Katz-und-Maus-Spiel, was dort betrieben wird“, so der Oberst.

Russland mit langem Atem

Auch nach anderthalb Jahren Krieg sei nicht absehbar, dass Russland seine militärische Durchhaltefähigkeit verliere, so Tölke. Die russische Rüstungsindustrie hätte ihre Produktionskapazitäten erhöht, es werde mehr auf günstige Drohnen statt auf teure Marschflugkörper gesetzt. Zudem seien Rüstungskooperationen wie zum Beispiel mit dem Iran eingegangen worden. „Wir gehen derzeit davon aus, dass auch im kommenden Jahr ausreichend Munition aller Art zur Verfügung steht, um den Krieg in der derzeitigen Intensität zumindest weiter fortzuführen“, sagt Oberst Tölke.

von Timo Kather

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